Das Konzept der „Smile Curve“ am Prüfstand:Die Wertschöpfungsverteilung in globalen Wertschöpfungsketten

Dieser Artikel basiert auf einem noch unveröffentlichten Paper, das im Rahmen des Projekts TWIN SEEDS Horizon Europe verfasst wird, und untersucht die Wertschöpfungsverteilung auf verschiedene unternehmerische Funktionsbereiche (‚business functions‘), die innerhalb von Tochtergesellschaften multinationaler Unternehmen (MNU) in (Greenfield- bzw. Brownfield-)Projekte involviert sind. Die Validität des Konzeptes der ‘Smile Curve‘, das die Schöpfung von Mehrwert mit verschiedenen Abschnitten globaler Wertschöpfungsketten (GVC) in Zusammenhang bringt, soll einer Prüfung unterzogen werden, und zwar anhand der Analyse mehrerer Verteilungsvariablen (Aufschlagssätze als Näherungswerte für Gewinnspannen; Lohnsätze; Anteile, welche Arbeitsleistungen zu Wertschöpfung und Umsatz beitragen).

Einleitung: Die Bedeutung der Wertschöpfungsverteilung innerhalb globaler Wertschöpfungsketten (GVC)

Die Wertschöpfungsverteilung innerhalb globaler Wertschöpfungsketten (GVC) interessiert Ökonomen und Entscheidungsträger schon seit geraumer Zeit. Die so genannte ‘Smile Curve‘ vermittelt das Konzept, dass die höchste Wertschöpfung bei Arbeitstätigkeiten erzielt wird, die dem Fertigungsprozess vor- bzw. nachgelagert sind, wobei Tätigkeiten im eigentlichen Fertigungsbereich mit vergleichsweise geringer Wertschöpfung einhergehen. Die GVC durchlaufen aktuell einen Wandel, der durch technischen Fortschritt, geopolitische Spannungen und den Umstieg auf umweltfreundlichere Wirtschaftsmodelle vorangetrieben wird. Diese Veränderungen erfordern resiliente Lieferketten, sodass sich erneut die Frage aufdrängt, wie die Schaffung von Mehrwert auf verschiedene Produktionsstufen des Wertschöpfungsprozesses verteilt ist.

Die erwähnte „Smile Curve“ ist ein Konzept, das von Mudambi (2008) geprägt wurde[i]. Es stellt dar, dass die Wertschöpfung bei vorgelagerten Arbeitstätigkeiten (Forschung & Entwicklung, Design, zentrale Unternehmenssteuerung, Finanzierung) sowie nachgelagerten Tätigkeiten (Marketing, Vertrieb, Logistik) am höchsten ist; der eigentliche Fertigungsprozess geht mit geringerer Wertschöpfung einher. Durch die Analyse der Wirtschaftsaktivitäten von Tochtergesellschaften multinationaler Unternehmen (MNU) können die Faktoren offengelegt werden, welche die Wertschöpfungsverteilung je nach Standort und unternehmerischem Funktionsbereich beeinflussen. Im Rahmen des Forschungsprojekts TWIN SEEDS Horizon Europe wurde das Konzept der „Smile Curve“, das die Schaffung von Mehrwert mit verschiedenen Etappen globaler Wertschöpfungsketten (GVC) in Zusammenhang bringt, einer Prüfung unterzogen, und zwar anhand der Analyse mehrerer Verteilungsvariablen (Aufschlagssätze als Näherungswerte für Gewinnspannen; Lohnsätze; Anteile, welche verschiedene Arbeitsleistungen zu Wertschöpfung und Umsatz beitragen). Dieser Artikel basiert auf einer detaillierten Analyse von Daten aus der Orbis-Unternehmensdatenbank, die einen Zeitraum von über einem Jahrzehnt umfassen, und untersucht die funktionalen Spezialisierungsmuster innerhalb der internationalen Geschäftsbereiche von MNU-Tochterunternehmen sowie die Auswirkungen dieser Spezialisierungsmuster auf die Wertschöpfungsverteilung.

Die Bedeutung funktionaler Spezialisierungen verstehen

MNU gestalten die GVC entscheidend mit, indem sie die funktionale Spezialisierung entlang der Wertschöpfungskette fördern. Sie weisen bestimmte Tätigkeiten strategisch bestimmten Standorten zu, um die Effizienz und Profitabilität ihrer Geschäfte zu maximieren. Unsere Studie unterscheidet grob zwischen fünf unternehmerischen Funktionsbereichen:

1. Zentrale Unternehmenssteuerung – zentrale Entscheidungsfindung und Management.

2. F&E sowie IKT – Innovation, technologische Entwicklung und digitale Infrastruktur.

3. Finanz- und Unternehmensdienste (engl. Finance and Business Services, FBS) – Administrations- und Finanztätigkeiten.

4. Fertigung – Kerntätigkeiten in der Fertigung.

5. Verkauf, Marketing und Logistik (engl. Sales, Marketing and Logistics, SML) – Vertrieb, Marketing und Kundenmanagement.

Anhand dieser Kategorien kann einfacher untersucht werden, wie die Wertschöpfung verteilt ist – sowohl in Bezug auf verschiedene unternehmerischen Funktionsbereichen als auch auf verschiedene globale Regionen bzw. Ländern, wobei zwischen globalen und europäischen Wertschöpfungsmustern unterschieden wird.

Kernresultate der Studie in Bezug auf die Wertschöpfungsverteilung

1. Das Konzept der „Smile Curve“ trifft zu, was den Mehrwert anbelangt

Im Rahmen unserer Analyse konnte gezeigt werden, dass das Konzept der ‘Smile Curve‘ weiterhin von Relevanz ist. Die Wertschöpfungsquoten (Anteil der Wertschöpfung am Umsatz) sind in den Bereichen Zentrale Unternehmenssteuerung, F&E und IKT, FBS und SML durchwegs höher als im Fertigungsbereich (Bild 1). Diese Erkenntnis unterstreicht, dass hochqualifizierte, wissensintensive Tätigkeiten maßgeblich zur Wertschöpfung beitragen.

2. Die Aufschläge (Profitmargen) sind jedoch bei hoch-wertschöpfenden Funktionen geringer

Im Gegensatz zu herkömmlichen Interpretationen der ‘Smile Curve‘, welche sich primär auf die Wertschöpfungsquoten fokussieren, zeigen wir, dass die Gewinnspannen in Funktionsbereichen, die der Fertigung vor- bzw. nachgelagert sind, tendenziell geringer ausfallen als im Fertigungsbereich selbst (Bild 2). Das ist unter anderem auf die höheren Betriebs- und Arbeitskosten in wissensintensiveren Branchen zurückzuführen. Die höheren wirtschaftlichen Gewinne in diesen Segmenten manifestieren sich nicht so sehr in hohen Gewinnspannen für die Unternehmen, sondern eher in Form erhöhter Lohnsätze und vergleichsweise höheren Anteilen, die die Arbeitsleistungen zu Wertschöpfung und Umsatz beitragen.

3. Die Anteile, die die Arbeitsleistungen zu Wertschöpfung und Umsatz beitragen, spiegeln die funktionale Spezialisierung wider

Die Lohnsätze sind in Funktionsbereichen, die der Herstellung vor- bzw. nachgelagert sind, deutlich höher, was darauf zurückzuführen ist, dass die Unternehmen auf qualifiziertes Personal angewiesen sind. Die Anteile, die die Arbeitsleistungen zu Wertschöpfung und Umsatz beitragen, sind ebenfalls erhöht, was darauf hindeutet, dass Mitarbeiter:innen in diesen Segmenten eine stärkere Verhandlungsmacht haben und mehr verdienen (Bild 2). Im Gegensatz dazu werden Tätigkeiten im Fertigungsbereich schlechter entlohnt und die Arbeitsleistung beträgt einen geringeren Anteil zu Wertschöpfung und Umsatz, wobei oftmals Automatisierung und andere kosteneffiziente Praktiken zum Einsatz kommen.

Regionale Muster der funktionalen Spezialisierung

Unsere Studie hat markante regionale Disparitäten (Bild 3) bei der Wertschöpfungsverteilung entlang der GVC aufgezeigt:

1. Globale vs. europäische Dynamiken

MNU profitieren von erheblichen globalen Unterschieden, was Löhne, Qualifizierung und Arbeitsmarktbedingungen betrifft – sodass sie in Niedriglohn-Ländern geringere Löhne bezahlen können und durch ihre Marktpositionierung über einen größeren Spielraum zur Erzielung höherer Gewinnspannen verfügen. Innerhalb Europas gibt es weniger differenzierte Lohnstrukturen in den unterschiedlichen Funktionsbereichen, da die qualifizierte Arbeitnehmerschaft homogener verteilt und der Arbeitsmarkt stärker durch Maßnahmen und Vorschriften harmonisiert ist. Im Vergleich zu Tochterunternehmen im nicht-europäischen Raum, zeigt sich bei europäischen Tochterunternehmen ein geringerer Lohnunterschied zwischen Funktionen im und außerhalb des Fertigungsbereichs.

2. Der Vorteil der  EU-MOE in den Bereichen F&E, IKT sowie Verkauf, Marketing und Logistik (SML)

Eine Analyse der Geschäftstätigkeiten, die multinationale Unternehmen (durch ihre Tochterunternehmen) in mittelosteuropäischen EU-Mitgliedsländern (EU-MOE) durchführen, zeigt, dass sie vor allem in Funktionsbereichen, die sich mit F&E, IKT sowie SML beschäftigen, hohe Gewinnspannen erzielen. Die Wertschöpfungsraten in diesen Funktionen übertreffen jene im Fertigungsbereich – eine Entwicklung, die durch den vergleichsweise geringeren Kostenaufwand und die wachsende Verfügbarkeit von qualifizierten Arbeitskräften begünstigt wird. Betrachtet man die Situation unter dem Gesichtspunkt der Kosten, so suggerieren diese Trends, dass die EU-MOE-Wirtschaften zu wettbewerbsfähigen Hubs für Innovation und Logistik innerhalb der GVC heranwachsen.

Implikationen für Entscheidungsträger:innen

  • Funktionen mit hoher Wertschöpfung attraktiver machen

Entscheidungsträger:innen sind dazu aufgerufen, mit hoher Wertschöpfung assoziierte Funktionsbereiche (F&E, IKT, zentrale Steuerung) zu fördern. Dieses Ziel kann durch gezielte Initiativen, (Fort-) Bildungsinvestitionen und infrastrukturelle Verbesserungen erreicht werden, die Arbeitskräften besseren Zugang zu hoch-wertschöpfenden Funktionen ermöglichen.

  • Den Arbeitsmarkt egalitärer gestalten

Wenn sich Unternehmen darum bemühen, qualifizierte Arbeitskräfte in den verschiedenen Unternehmensfunktionsbereichen  einzustellen, so führt das zu geringeren Disparitäten in der Wertschöpfungsverteilung. Dies kann durch Kollektivvertragsverhandlungen die zu Angleichung von Lohnstrukturen in diesen Bereichen führensowie durch Fortbildungsmöglichkeiten gefördert werden.

  • Die Transparenz innerhalb der Wertschöpfungsketten fördern

Die Wertschöpfungsverteilung entlang globaler GVCs sollte auch auf globaler/regionaler Ebene transparent gestaltet sein. Steuerregelungen und Standards für die Unternehmensberichterstattung sollten Praktiken unterbinden, die darauf abzielen, Profite vorrangig in Niedrigsteuerländern zu erzielen, sowie von Praktiken, welche die Beiträge von Unternehmenstätigkeiten in unterschiedlichen Regionen stark unterscheidlich entgelten.

Ausblick: Wie die Wertschöpfungsverteilung in GVC künftig aussehen wird

Da die globalen Wirtschaften zunehmend auf Nachhaltigkeit und Digitalisierung ausgerichtet werden, ist davon auszugehen, dass die Wertschöpfungsverteilung innerhalb der GVC einem Wandel unterworfen sein wird. Künftige Studien sollten untersuchen, wie sich diese Trends auf die funktionale Spezialisierung von internationalen Wertschöpfungsketten auswirken. Dabei können detaillierte Daten zu Transaktionen zwischen MNUs näheren Aufschluss über das Zusammenspiel von Preisstrategien, Lohnverhandlungen, Upskilling und der Wertschöpfungsverteilung geben.

Schlussfolgerung
Die ‘Smile Curve‘ ist und bleibt ein sehr nützliches Konzept, wenn es darum geht, die Wertschöpfungsverteilung innerhalb der GVC zu veranschaulichen. Die Ergebnisse unserer Studie verdeutlichen, dass die funktionale Spezialisierung entlang der Wertschöpfungskette erheblich beeinflusst, wie Wertschöpfungsketten ausgestaltet und geschöpfte Werte verteilt werden. Entscheidungsträger:innen sind dazu aufgerufen, können diese Erkenntnisse nutzen, um ihre Wirtschaftsbereiche als attraktive Hubs für hoch-wertschöpfende Tätigkeiten zu positionieren, die auch einem gut qualifizierten Personal sein Tätigkeit entsprechend entgelten und damit ein gerechtes Wachstum fördern.


[i] Mudambi, R. (2008). Location, control and innovation in knowledge-intensive industries. Journal of Economic Geography, 8 (5), 699-725.

Autoren:

Mahdi Ghodsi ist Wirtschaftswissenschaftler am Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche, Lektor an der Wirtschaftsuniversität Wien und Senior Fellow und Leiter des Bereichs Wirtschaft am Center for Middle East and Global Order.

Michael Landesmann ist Senior Research Associate am Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche. Er ist emeritierter Professor an der Johannes Kepler Universität Linz.

Die Grafiken wurden von Alireza Sabouniha erstellt. Alireza Sabouniha ist Research Assistant am wiiw und PhD-Kandidat an der Leopold-Franzens Universität Innsbruck.