Near-Shoring am Westbalkan: ein Update

In den westlichen Balkanländern gewinnt Near-Shoring an Bedeutung, vor allem auf Grund geopolitischer Veränderungen und dem behördlichen Druck zur Verringerung der Kohlenstoffemissionen. Aufgrund der hohen Kosten ist es nach wie vor unwahrscheinlich, dass westeuropäische Unternehmen Fabriken von Asien nach Osteuropa verlagern. Allerdings entscheiden sich westliche Unternehmen zunehmend dafür, Neuinvestitionen nach Osteuropa anstatt nach Asien fließen zu lassen. Interessanterweise investieren auch asiatische Unternehmen in Osteuropa, um sich näher am EU-Markt zu positionieren. Der jüngste politische Rechtsruck in verschiedenen Ländern der Welt wird diese Trends wahrscheinlich auf komplexe Weise beeinflussen; die größte Herausforderung für die westlichen Balkanländer besteht aber darin, das wachsende Risiko eines Fachkräftemangels zu bewältigen.

Einleitung

Das Konzept des „Near-Shoring“ erlangte erstmals im Zuge der Diskussionen zur „Slowbalisation“ nach der globalen Finanzkrise 2007-2008 Aufmerksamkeit (Bakas 2015; The Economist 2019). An zusätzlicher Bedeutung gewann es infolge der Versorgungsengpässe, die durch die COVID-19-Pandemie verursacht wurden (McKinsey & Co. 2020), sowie zuletzt durch den Krieg in der Ukraine (Agnew 2022).

2021 publizierten wir eine Studie, in der wir untersuchten, ob die Volkswirtschaften am Westbalkan infolge der Pandemie von Near-Shoring-Trends profitieren könnten (Jovanović et al. 2021). Unsere Untersuchungen ergaben, dass dies tatsächlich der Fall ist, wenn die westlichen Balkanländer in der Lage sind, qualifiziertere Arbeitskräfte, eine verbesserte Infrastruktur und eine gestärkte Governance zu bieten.

Vor kurzem haben wir eine Folgestudie durchgeführt, die diese Fragefragestellungen erneut aufgreift und erweitert (Jovanović et al. 2024). Die neue Studie erörtert, ob es auf dem Westbalkan tatsächlich zu Near-Shoring gekommen ist, bringt Beispiele für Unternehmen, die Betriebsstätten in die Region verlagert haben, untersucht diese Fälle im Detail und erforscht die Faktoren, die bei Entscheidungen für Near-Shoring eine Rolle spielen.

FDI-Trends am Westbalkan

Unsere Analyse beginnt mit einer quantitativen Untersuchung von jüngsten Trends, was ausländische Direktinvestitionen (FDI) in sechs verschiedenen Westbalkanländern betrifft. Ziel ist es, herauszufinden, ob makroökonomische Daten auf eine Zunahme von FDI infolge der Pandemie hindeuten.

Unser Ansatz ist einfach: Wir analysierten die FDI-Trends vor der Pandemie, extrapolierten diese, um die erwartbaren Investitionszuflüsse nach der Pandemie zu simulieren, und verglichen dann die extrapolierten Werte mit den tatsächlichen Daten. Wenn die tatsächlichen FDI-Zuflüsse unter den simulierten Niveaus lägen, wäre das als Hinweis für Near-Shoring zu werten. Diese Interpretation beruht auf der Annahme, dass die Trends vor der Pandemie das Investmentniveau in einem „Business as usual“-Szenario widerspiegeln. Wenn die FDI-Kapitalzuflüsse über den extrapolierten Werten lägen, wäre davon auszugehen, dass neue Faktoren zunehmendes Investment bewirkt hätten, was wiederum auf Near-Shoring zurückzuführen wäre.

Zur Durchführung der Analyse setzten wir zwei komplementäre Simulationsmethoden ein. Die erste Methode wendet einen simplen logarithmischen Trend auf die gesamten FDI-Zuflüsse für jede Volkswirtschaft an. Die zweite Methode nutzt wirtschaftliche Modelle, um makroökonomische Faktoren, die FDI-Zuflüsse beeinflussen, zu analysieren – konkret vier verschiedene Modelle, die auf verschiedenen Kombinationen der folgenden unabhängigen Variablen basieren: Kreditwürdigkeit des Staates, Rechtsstaatlichkeit, nominales BIP und Einnahmen des Staates. Die Analyse wurde für jedes der westlichen Balkanländer separat durchgeführt, wobei die Phase vor der Pandemie mit dem Zeitraum von 2012-2019 gleichgesetzt wurde, und die Phase nach der Pandemie mit dem Zeitraum von 2020-2023.

Abbildung 1 zeigt die simulierten und tatsächlichen FDI-Zuflüsse. Die simulierten Werte werden in oranger Farbe dargestellt (die Bandbreite reicht von den niedrigsten bis zu den höchsten Schätzungen), während die tatsächlichen FDI-Zuflüsse mit einer dunkelgrauen Linie eingezeichnet sind. Die Phase nach der Pandemie wurde zur Veranschaulichung mit einem hellgrauen Hintergrund markiert.

Die Daten zeigen gegensätzliche Trends innerhalb der Region. In Albanien und Serbien fielen die FDI-Zuflüsse von 2020 bis 2023 durchgehend unter die simulierten Werte, womit keine Hinweise für Near-Shoring vorliegen. Im Gegensatz dazu zeigen die Daten für Bosnien und Herzegowina, den Kosovo und Nordmazedonien FDI-Zuflüsse, die über der simulierten Werten für die letzten 2-4 Jahre liegen, was wir als Hinweis für Near-Shoring in der Phase nach der Pandemie interpretieren. Montenegro ist ein Grenzfall. Obwohl die FDI-Zuflüsse die simulierten Niveaus für 2020 bis 2022 übertrafen, lagen sie im Jahr 2023 darunter. Somit ist es schwer zu beurteilen, ob die Werte als Hinweis auf Near-Shoring gewertet werden können oder einfach nur typische zyklische FDI-Fluktuationen widerspiegeln.

Einblicke aus Fallstudien und Interviews mit Unternehmensvertreter:innen

Wir ermittelten Beispiele für Nearshoring in den westlichen Balkanländern, wobei solche Fälle in allen Volkswirtschaften außer Montenegro zu finden sind. Interessanterweise stammen viele der Investitionen von asiatischen Unternehmen, die sich strategisch in der Region positionieren, um sich EU-Handelspartnern anzunähern und Exporte in den europäischen Markt einfacher zu gestalten. Westeuropäische Unternehmen, die Betriebsstätten auf den Westbalkan verlagerten, bevorzugten Near-Shoring in Osteuropa gegenüber Investitionen in Asien – auf Grund der niedrigen Produktionskosten und der Nähe zur EU. Es konnten keine Hinweise darauf gefunden werden, dass Unternehmen Betriebsstätten in Asien zusperrten und auf den Westbalkan verlagerten, wahrscheinlich wegen der hohen Kosten, die mit solchen Verlagerungen verbunden wären.Interviews mit ausländischen Investoren und anderen Stakeholder:innen bestätigten die Annahme, dass multinationale Konzerne aktiv über Near-Shoring-Strategien nachdenken bzw. diese umsetzen. Geopolitische Entwicklungen wie der Krieg in der Ukraine und die zunehmende globale politische Polarisierung beschleunigen diesen Trend. Eine Strategie, die hervorsticht und sich offenbar immer mehr durchsetzt, ist der Ansatz „local for local“ („von der Region für die Region“), der darin besteht, dass Unternehmen deren Produktion und sonstige Aktivitäten näher an ihren Endmärkten ansiedeln.

Die Interviews bestätigten auch, dass Investitionsentscheidungen zunehmend von Aspekten wie ökologischer Nachhaltigkeit und Dekarbonisierung mitbeeinflusst werden. Der Druck der Behörden und die Erwartungen der Konsument:innen bewegen Unternehmen dazu, ihre Kohlenstoffemissionen zu reduzieren und Lieferketten zu verkürzen, was wiederum für Near-Shoring-Optionen spricht.

Fazit

Wenn Unternehmen über Near-Shoring-Strategien nachdenken bzw. diese umsetzen, so sind hier vor allem zwei Faktoren ausschlaggebend: Erstens veranlassen die geopolitischen Spannungen und die zunehmende globale Unsicherheit die Unternehmen dazu, ihre Risiken zu verringern und die Kosten zu senken. . Zweitens unterliegen sie dem zunehmenden Druck, ihre Lieferketten zu verkürzen und Kohlenstoffemissionen zu reduzieren – auf Grund von behördlichen Auflagen und Erwartungen von Geschäftspartner:innen, die ihren eigenen ökologischen Fußabdruck verringern wollen.

Herkömmliches Near-Shoring (in dem Sinne, dass man Fabriken in Asien zusperrt und nach Osteuropa verlagert) wird vermutlich weiterhin ausbleiben, weil die damit verbundenen Kosten zu hoch wären. Stattdessen ist es wahrscheinlich, dass westeuropäische Unternehmen, die bereits über Betriebsstätten in Osteuropa verfügen, diese ausbauen, anstatt in Asien zu investieren. Gleichermaßen ist erwartbar, dass westeuropäische Unternehmen künftig eher in Osteuropa als in Asien investieren.

Ein weiterer bedeutender Trend betrifft asiatische Unternehmen, die in Osteuropa investieren, um sich dem EU-Markt anzunähern. Die Nähe zum EU-Markt erlaubt es ihnen, ihre Produkte direkt innerhalb der EU zu verkaufen und/oder effizienter mit Partnerunternehmen in der EU zusammenzuarbeiten.

Jüngste geopolitische Entwicklungen wie die Erfolge rechtsradikaler Parteien in Europa und die Wiederwahl von Donald Trump als US-Präsident werden sich wahrscheinlich auf komplexe Weise auf Near-Shoring-Dynamiken auswirken. Auf der einen Seite kann es sein, dass die zunehmende geopolitische Unsicherheit und globale politische Polarisierung Near-Shoring-Initiativen fördert. Handelskriege und die Auferlegung bzw. Erhöhung von Zolltarifen könnte chinesische und andere asiatische Unternehmen dazu veranlassen, Betriebsstätten in Osteuropa zu etablieren, um EU-Zölle zu umgehen. Auf der anderen Seite könnte ein Zurückfahren von Umweltauflagen bedeuten, dass Unternehmen nicht mehr dem Druck der Behörden und den Anforderungen von Geschäftspartner:innen unterliegen, sich aus ökologischen Gründen für Near-Shoring zu entscheiden.

Die größte Herausforderung in Bezug auf Near-Shoring in bzw. FDI für Osteuropa betrifft den zunehmenden Fachkräftemangel in der Region. Dieser birgt das Risiko, dass ausländische Unternehmen davon abgehalten werden, in die Region zu investieren. Die Regierungen sind angehalten, dieses Problem zu lösen, indem sie den regionalen Pool an qualifizierten Arbeitskräften durch Weiterbildungs- und Umschulungsinitiativen erweitern, ausländische Expert:innen anziehen und eine stärkere Automatisierung in die Wege leiten. Zusätzlich sollte stärker auf Hightech-Branchen fokussiert werden, die mit weniger Personal auskommen.

Referenzen:

Agnew, H. (2022). „Ukraine, supply chains and the end of globalisation“. Financial Times, 28. März. www.ft.com/content/bec75c62-a0e6-4ad1-8365-2671d40ef48e

Bakas, A. (2015). Capitalism & Slowbalization: The Market, the State and the Crowd in the 21st Century. Dexter.

Jovanović, B., Ghodsi, M., van Zijverden, O., Kluge, S., Gaber, M., Mima, R., et al. (2021). „Getting stronger after COVID-19: Near-shoring potential in the Western Balkans“. wiiw Forschungsbericht Nr. 453, Mai, wiiw, Wien. https://wiiw.ac.at/getting-stronger-after-covid-19-near-shoring-potential-in-the-western-balkans-dlp-5814.pdf

Jovanović, B., Zlatanović, A., Kluge, S., Zec, A., Ibrahimi, M., Brašanac M. et al. (2024). Transforming the Western Balkans through near-shoring and decarbonisation. wiiw und Western Balkans 6 Chamber Investment Forum. Abrufbar unter: https://wiiw.ac.at/transforming-the-western-balkans-through-near-shoring-and-decarbonisation-p-6999.html

McKinsey & Co. (2020). „Risk, resilience, and rebalancing in global value chains“. www.mckinsey.com/capabilities/operations/our-insights/risk-resilience-and-rebalancing-in-global-value-chains

The Economist (2019). „Slowbalisation: The steam has gone out of globalisation“, 24. Jänner. www.economist.com/leaders/2019/01/24/the-steam-has-gone-out-of-globalisation

Autoren:

Branimir Jovanović ist Ökonom am wiiw und Länderexperte für Nordmazedonien und Serbien. Seine aktuellen Forschungsinteressen liegen vor allem in den Bereichen wirtschaftliche Ungleichheit, Armut, Fiskalpolitik, Besteuerung, Sozialpolitik, Arbeitsrechte sowie Finanzkrisen und Erholungsphasen nach Krisen. Zuvor forschte er zu den Themen Geldpolitik, Kreditvergabe, Wechselkurse, Handel, ausländische Direktinvestitionen, Rücküberweisungen, Nachhaltigkeit der Leistungsbilanz, Prognosen und Immobilienpreise.

Die Grafiken wurden von Alireza Sabouniha erstellt. Er ist Universitätsassistent und PhD-Kandidat an der Leopold-Franzens Universität Innsbruck.