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FIW-Spotlight: Das riskante geldpolitische Experiment der Türkei

Die türkische Wirtschaft hatte in den letzten Jahren mit einer rasanten Abwertung der Lira und einem starken Anstieg der Inflation zu kämpfen. Dies mag zwar den Schwierigkeiten der Schwellenländer in den 1990er Jahren ähneln und spiegelt zum Teil auch den Inflationsdruck wider, unter dem ganz Europa derzeit leidet, doch die zugrundeliegenden Mechanismen sind andere und größtenteils selbstverschuldet. Die jüngste wirtschaftliche Situation in der Türkei, dem sechstgrößten Handelspartner der EU mit einem Anteil von 3,3%, führt uns die Folgen einer falschen Geldpolitik eindringlich vor Augen.

Die Europäische Union bleibt trotz eines rückläufigen Trends in den letzten Jahren der größte Export- und Importpartner der Türkei (Abbildung 1). Zwischen 2018 und 2022 sank der Anteil der türkischen Exporte in die EU von 43,1 % auf 40,5 %, während der Anteil der Importe von 33,3 % auf 25,6 % zurückging. Österreich hat einen geringeren Anteil am Gesamthandel der Türkei: Der Exportanteil der Türkei nach Österreich blieb in den letzten Jahren relativ stabil bei rund 0,7 %, der Importanteil sank jedoch von 0,7 % im Jahr 2018 auf 0,5 % im Jahr 2022. Aus europäischer Sicht ist die Türkei mit 3,3 % der sechstwichtigste Handelspartner der EU. Der Anteil der Türkei am österreichischen Handel beträgt rund 0,7 % (inkl. Intra-EU-Handel).

In den letzten zehn Jahren sah sich die Türkei mit einer Reihe von Herausforderungen konfrontiert, darunter instabile Wachstumsraten, eine erhebliche Währungsabwertung und ein Anstieg der Inflation (Abbildung 2). In den letzten Jahren haben sich diese Probleme verschlimmert, was zum Teil auf externe Faktoren wie die COVID-19-Pandemie und den Krieg in der Ukraine zurückzuführen ist. Dies führte zu einem sehr unausgewogenen Wachstumsmuster und einer erheblichen Anhäufung potenzieller Risiken innerhalb des Wirtschaftssystems. Die unkonventionelle türkische Geldpolitik, die durch niedrige Zinssätze und eine starke Abhängigkeit von Krediten gekennzeichnet ist, hat wesentlich zur Verschärfung dieser Probleme beigetragen. Da sich Präsident Erdogan nun eine weitere Amtszeit gesichert hat, sind die Sorgen über die Ausrichtung der Geldpolitik größer denn je und stellen die künftige Stabilität der türkischen Wirtschaft in Frage.

Dabei ist es jedoch wichtig darauf hinzuweisen, dass die wirtschaftliche Situation nicht immer so war. In den ersten zehn Jahren der Regierungszeit von Präsident Erdogan galten sowohl er als auch die AKP weithin als fähig, konservativ und umsichtig in ihrem wirtschaftspolitischen Ansatz. Doch ab Mitte der 2010er Jahre sah sich die Türkei mit erheblichen Herausforderungen konfrontiert. Das politische Risiko nahm zu, etwa durch die Gezi-Park-Proteste im Jahr 2013 und dem Putschversuch im Jahr 2016. Zum Teil als Reaktion darauf begann die Regierung, die Kapazitäten und die Unabhängigkeit der staatlichen Institutionen zu untergraben. 

Um dem wirtschaftlichen Abschwung in diesem Zeitraum entgegenzuwirken, ergriff die Regierung Maßnahmen wie umfangreiche Infrastrukturinvestitionen und niedrige Zinssätze, um die Kreditaufnahme im Inland zu fördern (Abbildung 3). Es entstand der Eindruck, dass die Zentralbank gezwungen war, die Zinssätze niedrig zu halten. Diese Maßnahmen führten jedoch zu steigender Inlandsnachfrage und Importen und somit zu erheblichen Handelsbilanzdefiziten. Das wiederum bedingte eine höhere ausländische Verschuldung und führte zu einer raschen Abwertung der Lira und einem Vertrauensverlust in die Geldpolitik, der durch längere Phasen negativer realer Zinssätze und zunehmendem Inflationsdruck ausgelöst wurde.

Das geldpolitische Experiment der Türkei als Heilmittel gegen Wachstumsverlangsamung und steigende Inflation

Die Unabhängigkeit der Zentralbank in der Türkei wurde in den letzten Jahren immer weiter zurückgenommen. Das Vorgehen von Präsident Erdogan zeigt, dass er nicht zögert, Zentralbanker und Finanzminister zu entlassen, wenn sie nicht seinen Wünschen entsprechen. Seit 2020 wurden drei Beamte ohne eine klare Erklärung aus ihren Ämtern entlassen, was zu Spekulationen führte, dass ihre Weigerung, die Zinssätze weiter zu senken, der Hauptgrund für die Entlassung gewesen sein könnte.[1] Präsident Erdogan ist der Ansicht, dass höhere Zinssätze die Ursache für steigende Preise sind, nicht aber ein Mittel dagegen. Er argumentiert, dass niedrige Zinsen die Verbraucherausgaben, die Investitionen der Unternehmen und die Schaffung von Arbeitsplätzen fördern werden. Er behauptet auch, dass eine schwächere türkische Lira gegenüber dem US-Dollar die Exporte erschwinglicher machen würde, was zu einer erhöhten Nachfrage seitens ausländischer Verbraucher führen würde.

An diesen Argumenten ist etwas Wahres dran. Die schwächere Lira scheint dem Exportwachstum in den letzten Jahren tatsächlich geholfen zu haben. Und die billigen Kredite haben sicherlich die Verbraucherausgaben gestützt. Doch diese Politik hat erhebliche Konsequenzen. Die Türkei ist in hohem Maße von Einfuhren wie Kraftstoff, Gas, Medikamenten, Düngemitteln und anderen Rohstoffen abhängig. Wenn der Wert der Lira sinkt, steigen die Kosten für den Kauf dieser importierten Waren. Darüber hinaus hat die unkonventionelle Geldpolitik von Präsident Erdogan bei ausländischen Investoren, die zuvor bereit waren, türkischen Unternehmen erhebliche Geldbeträge zu leihen, Bedenken geweckt. Darüber hinaus wird durch die Einführung des Lira-Sparplans „KKM“, einer staatlich unterstützten, währungsgesicherten Einlage, das Risiko von Wechselkursschwankungen auf den öffentlichen Sektor übertragen, was zu erheblichen Eventualverbindlichkeiten führt und ein Risiko für die inländische Finanzstabilität darstellt.

Anfang 2022, als die Zentralbanken in Europa und den Vereinigten Staaten begannen, ihre Geldpolitik zu straffen und die Zinssätze zu erhöhen, um die Inflation zu bekämpfen, begann die türkische Zentralbank, ihre Zinssätze zu senken. Diese unkonventionelle Strategie hat zu einer starken Abwertung der Lira und zu immer höheren Inflationsraten geführt, wobei die jährliche Inflationsrate im Oktober 2022 mit über 85 % ein 24-Jahreshoch erreichte. Viele Analysten glauben, dass die tatsächliche Inflationsrate auf der Straße noch höher ist, als die offiziellen Zahlen vermuten lassen.[2]

Um den Auswirkungen der steigenden Inflation zu begegnen, hat die türkische Regierung mehrere Maßnahmen ergriffen. Das sind vor allem die Anhebung des Mindestlohns und der Löhne im öffentlichen Dienst um 55 % bzw. 45 %. Neben der Einführung des KKM-Systems hat die Regierung auch strenge Vorschriften für Fremdwährungstransaktionen von Unternehmen durchgesetzt. Die Wirksamkeit dieser Maßnahmen scheint jedoch begrenzt zu sein. Im April 2023 lag die jährliche Inflationsrate der Türkei bei 43,7 %, was aufgrund von Basiseffekten einen Abwärtstrend darstellt, aber im Vergleich zu anderen Ländern immer noch sehr hoch ist.
Steigende Inflationsraten in der Türkei, zusammen mit einem Anstieg der Importpreise und Produktionskosten, stellen Haushalte und Unternehmen gleichermaßen vor große Schwierigkeiten. Haushalte mit niedrigem Einkommen können sich die Grundbedürfnisse kaum noch leisten, da die Preise in die Höhe schießen, während es für Unternehmen aufgrund unvorhersehbarer Erträge und steigender Kosten schwierig ist, zu planen und in neue Projekte zu investieren. In der Türkei wird die Inflation, wie in jedem anderen Land auch, von Faktoren beeinflusst, die sowohl mit der Nachfrage als auch mit den Kosten zusammenhängen. Daher würde eine Anhebung der Zinssätze allein das Problem nicht lösen, da auch Kostenfaktoren wie die höheren Energiepreise zu berücksichtigen sind. Dennoch ist klar, dass solange die Realzinsen tief im negativen Bereich liegen, die Lira abwerten, die importierte Inflation ansteigen und die Wirtschaft leiden wird.

Wie sieht die Zukunft aus?

Da sich Präsident Erdogan nun eine weitere Amtszeit gesichert hat, ist eine unmittelbare Änderung der Geldpolitik nach den Wahlen unwahrscheinlich. In Anbetracht der Tatsache, dass Präsident Erdogan in der Vergangenheit immer wieder seine Politik geändert hat, und angesichts des Drucks, den die schwächelnde Lira und die hohe Inflation auf die Wirtschaft ausüben, ist ein Kurswechsel zumindest jedoch möglich. Sollte die Zentralbank die Zinssätze anheben, wäre dies nicht das erste Mal, dass sie ihren Kurs abrupt ändert, da ähnliches 2018 und 2020 geschah. Der Zeitpunkt einer etwaigen Kehrtwende wird von den wirtschaftlichen Folgen der derzeitigen Politik abhängen. Wenn die Lira weiter fällt, werden die Eventualverbindlichkeiten des Staates im Zusammenhang mit dem KKM und anderen potenziellen Risiken eskalieren. Daher scheint es plausibel anzunehmen, dass Anpassungen vorgenommen werden können.

Eine genaue Bewertung der Nachfrage- und Kostenfaktoren ist nach wie vor von entscheidender Bedeutung für die wirksame Steuerung der Inflation und den Einsatz der Zinspolitik in der Türkei. Eine Änderung des geldpolitischen Kurses hin zu einer eher orthodoxen Politik, die auf geringe positive Realzinsen abzielt, würde zwar nicht alle wirtschaftlichen Probleme der Türkei lösen, aber sicherlich die makroökonomische Stabilität verbessern und die Grundlage für eine stabilere Wachstumsrate schaffen. Aber trotzdem hat sich die Wirtschaft als bemerkenswert widerstandsfähig erwiesen. Wenn weiterhin ausländische Gelder zur Deckung des hohen Leistungsbilanzdefizits fließen, ist es wahrscheinlich, dass das Jahr 2023 mit einer Wachstumsrate von etwa 2,6 % und einer Inflationsrate zwischen 40 und 50 % endet, was den Druck auf den Wechselkurs im Laufe des Jahres allmählich verringern wird.

[1] Siehe Reuters (2021), Factbox: Revolving door: Turkey’s last four central bank chiefs, available at https://www.reuters.com/world/middle-east/revolving-door-turkeys-last-four-central-bank-chiefs-2021-10-08/ und CNBC (2021), Turkey’s Erdogan names Nebati as new finance minister as lira skids, verfügbar unter https://www.cnbc.com/2021/12/02/turkeys-erdogan-names-nebati-as-new-finance-minister-as-lira-skids.html.
[2] Siehe DW (2022), Inflation in Turkey: Researcher won’t hide the figures Erdogan doesn’t want to see, available at https://www.france24.com/en/asia-pacific/20220622-inflation-in-turkey-researcher-won-t-hide-the-figures-erdogan-doesn-t-want-to-see, und Euronews (2022), Soaring inflation and a collapsing currency: Why is Turkey’s economy in such a mess?, verfügbar unter https://www.euronews.com/2022/11/09/everything-is-overheating-why-is-turkeys-economy-in-such-a-mess.

Autor:innen:

Meryem Gökten ist Ökonomin am Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche (wiiw) und Länderexpertin für die Türkei. Ihre Forschungsschwerpunkte sind makroökonomische Analysen, Fiskal- und Geldpolitik. Zuvor arbeitete sie Ökonomin in der Abteilung Finanzmärkte und Institutionen am Centre for European Policy Studies (CEPS) und als Beraterin in der Abteilung Länder- und Finanzsektoranalyse der Europäischen Investitionsbank (EIB). Meryem Gökten hat einen Master-Abschluss in Volkswirtschaft der Universität Freiburg und einen Bachelor-Abschluss der Universität Heidelberg.

Richard Grieveson ist stellvertretender Direktor am wiiw und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Diplomatischen Akademie Wien. Er ist auf die Volkswirtschaften Mittel-, Ost- und Südosteuropas spezialisiert, mit besonderem Schwerpunkt auf der Türkei und dem Westbalkan. Zuvor arbeitete er als Direktor im Emerging Europe Sovereigns Team bei Fitch Ratings und als Regional Manager im Europa-Team der Economist Intelligence Unit.Er verfügt über Abschlüsse der Universitäten Cambridge, Wien und Birkbeck.

Die Graphiken wurden von Alireza Sabouniha erstellt. Alireza Sabouniha ist Research Assistant am wiiw und absolviert derzeit sein Masterstudium in Volkswirtschaft an der WU Wien.

Rohstoffpreise im Spannungsfeld zwischen geldpolitischer Straffung und dem Ukraine-Krieg

Die globale Inflationsdynamik in den letzten Jahren spiegelt zum großen Teil die großen Schwankungen der Rohstoffpreise wider. Diese Schwankungen wurden im Wesentlichen durch die zwei aufeinanderfolgenden Schocks ausgelöst: die COVID-19-Pandemie und den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Während die Pandemie zunächst einen Rückgang der Rohstoffpreise bewirkte, sorgten das Ende der Pandemie und der Krieg zunächst für einen rasanten Anstieg. Trotz der Stabilisierung in den letzten Monaten liegen sie zum Teil nach wie vor deutlich über dem langjährigen Durchschnitt.

Die Verhängung strikter Mobilitätsbeschränkungen im Zuge der COVID-19-Pandemie hatte zunächst einen deutlichen Rückgang der Rohstoffpreise zur Folge. In den ersten drei Monaten von 2020 sind beispielsweise die Preise für Metalle und Mineralien um 16% und diejenigen für Energie gar um das nahezu Dreifache gesunken, während die Preise für Nahrungsmittel weitgehend konstant blieben (Abbildung 1). Der rasante Einbruch vor allem der Erdölpreise war auch dadurch bedingt, dass sich die führenden Produzenten Saudi-Arabien und Russland zunächst nicht auf eine Kürzung der Lieferungen einigen konnten. Nach dem erreichten Tiefstand im April 2020 haben sich die Rohstoffpreise im Zuge der allmählichen Lockerung von COVID-19-Maßnahmen und der globalen Konjunkturbelebung wieder erholt.

Russland und die Ukraine wichtig für globale Energie- und Agrarmärkte

Der im Februar 2022 begonnene Krieg Russlands gegen die Ukraine hat den globalen Rohstoffpreisen einen weiteren Schub gegeben. Die westlichen Sanktionen gegen die führenden russischen Ölunternehmen und die Ankündigung eines für Dezember 2022 angepeilten EU-Importembargos für russisches Öl hatten zunächst einen deutlichen Anstieg der Ölpreise zur Folge. Gegen Mitte Juni 2022 kletterte etwa der Preis von Brent auf 122 $ pro Fass und lag damit um 54% höher als am Anfang des Jahres. Außerdem trieb die Kürzung von Gaslieferungen durch Russland die europäischen Gaspreise in die Höhe. Im Jahresdurchschnitt von 2022 sanken die Pipeline-Gasimporte in die EU aus Russland um 55% und betrugen gegen Jahresende nur noch ein Fünftel des Vorjahresniveaus (McWilliams, Sgaravatti und Zachmann, 2021).[1] Der Großhandelspreis für Gas in der EU erreichte Ende August 2022 mit über 300 € pro MWh seinen historischen Höchststand und war im Durchschnitt des dritten Quartals 2022 fast 3,5 mal so hoch wie vor einem Jahr (European Commission, 2023).

Auch die Preise für mehrere wichtige Agrarwaren, wie Weizen, Mais und Zucker, zogen zunächst deutlich an. Der Börsenpreis von Weizen in den USA stieg beispielsweise zwischen Anfang Jänner 2022 und Mitte Mai 2022 um 57% (auf US-Dollar-Basis). Russland und die Ukraine waren historisch gesehen wichtige Getreideproduzenten und etwa für ein Drittel der globalen Getreideexporte vor dem Krieg verantwortlich. Die landwirtschaftliche Produktion in den vom Krieg schwer betroffenen ukrainischen Gebieten hat aber stark gelitten. Zusätzlich fielen die meisten Meereshäfen des Landes, über die ein Großteil der Agrarexporte abgewickelt wurde, für mehrere Monate nahezu aus.

Ausblick mit vielen Risiken behaftet

Mittlerweile haben sich die Rohstoffpreise wieder stabilisiert bzw. sind sogar zurückgegangen(Abbildung 1). Einerseits war dafür die Abkühlung der globalen Konjunktur im Zuge der geldpolitischen Straffung ausschlaggebend, was vor allem die Entwicklung der Preise für Metalle und Mineralien beeinträchtigte. Andererseits haben dazu auch die neu verhängten Sanktionen gegen russisches Erdöl – das weitgehende Importembargo in die EU und die Einführung von Preisobergrenzen für Lieferungen in Drittländer (seit Dezember 2022 für Rohöl und seit Februar 2023 für Ölprodukte) – beigetragen. Die Erdgaspreise in Europa waren seit August 2022 ebenfalls rückläufig, was den gut gefüllten Speichern, stark gestiegenen Importen von Flüssiggas (vor allem aus den USA) sowie den relativ milden Witterungsbedingungen zu verdanken war. Insgesamt sind dadurch die globalen Energiepreise seit August 2022 um 36% zurückgegangen. Die Lebensmittelpreise waren bereits seit Mai 2022 im Sinkflug, zum Teil aufgrund der guten Ernte in vielen Teilen der Welt. Auch das Ende Juli 2022 beschlossene Schwarzmeergetreideabkommen, das es ermöglichte, einen Großteil der Getreideexporte aus der Ukraine wieder auf den Weltmarkt zu bringen, hat eine positive Rolle gespielt (UNCTAD, 2023).

Der Ausblick in puncto weitere Rohstoffpreisentwicklung ist jedoch mit vielen Risiken behaftet. Die jüngste Abkehr von der Null-COVID-Politik wird für eine höhere Nachfrage nach Rohstoffen sorgen. Die Preise für Metalle und Mineralien haben bereits darauf reagiert und sind seit dem Tiefstand im Oktober 2022 um 17% gestiegen. Auch die Ausfälle bei der Stahlproduktion in der Türkei infolge des Erdbebens trugen zum Preisanstieg bei. Der weitere Verlauf des Ukraine-Krieges und des geopolitischen Konflikts zwischen dem Westen und Russland (und auch China) bleibt ein wichtiger Risikofaktor, der sowohl die Zukunft des Schwarzmeergetreideabkommens als auch die weiteren Gaslieferungen aus Russland in die EU infrage stellen kann. Sollte es aufgrund der sehr niedrigen Importe aus Russland nicht gelingen, die europäischen Gasspeicher rechtzeitig vor dem Winter 2023/24 zu füllen, ist eine Wiederholung der Energiekrise nicht auszuschließen, was einen erneuten Anstieg der Energiepreise mit sich bringen könnte.

Referenzen

European Commission (2023), Quarterly report on European gas markets, Vol. 15, Issue 3, DG Energy, https://energy.ec.europa.eu/data-and-analysis/market-analysis_en#gas-market—recent-developments

McWilliams, B., G. Sgaravatti, G. Zachmann (2021), European natural gas imports, Bruegel Datasets, first published 29 October, https://www.bruegel.org/dataset/european-natural-gas-imports

UNCTAD (2023), A trade hope: the impact of the Black Sea Grain Initiative. March, https://unctad.org/system/files/official-document/osginf2023d3_en.pdf

Autor: Vasily Astrov (wiiw)

Vasily Astrov ist Ökonom am wiiw und Länderexperte für Russland und andere GUS-Länder. Seine Forschungsschwerpunkte sind makroökonomische Analysen und Energiefragen. Er ist außerdem Herausgeber des wiiw-Monatsberichts. Er sammelte umfassende akademische und internationale Erfahrungen im Vereinigten Königreich (University of Warwick), Deutschland (Westfälische Wilhelms Universität), Norwegen (Universität Oslo) und Russland (Universität St. Petersburg) und absolvierte ein Studium der Wirtschaftswissenschaften (M.Sc., Dipl.-Volksw.) und Geographie (B.A.).

Die Graphiken wurden von Alireza Sabouniha erstellt. Alireza Sabouniha ist Research Assistant am wiiw und absolviert derzeit sein Masterstudium in Volkswirtschaft an der WU Wien.


[1] Nach den mysteriösen Explosionen bei Nord Stream 1 (und Nord Stream 2) Ende September 2022 wurden die Lieferungen über diese Route komplett eingestellt.

FIW-Spotlight: Preiseffekte dominieren Mengeneffekte beim Handel der EU27 mit Russland und Ukraine

Die Auswirkungen des ungerechtfertigten Angriffskrieges Russlands gegen die Ukraine und die daraus resultierenden ökonomischen Verwerfungen sind für alle spürbar: Steigende Rohstoffpreise und lange Lieferzeiten bei manchen Gütern konnten zwar schon vorher beobachtet werden, aber der Krieg hat diese Entwicklungen sicherlich weiter befeuert und verschärft.

Während der Handel mit Rohstoffen wie Gas aufmerksam beobachtet wird, gibt es auch spürbare Auswirkungen im Güterhandel. In diesem Beitrag werfen wir einen Blick auf aktuelle Handelsdaten, und nehmen die Entwicklung im Handel der EU27 mit Russland und der Ukraine unter die Lupe. Wir verwenden dazu Daten der EU Comext Datenbank, welche auf detaillierter Produktebene und mit einer Verzögerung von zwei Monaten abrufbar ist. Da die Handelsströme weiters in Wertvolumen und Mengenvolumen berichtet werden, erlauben sie Mengen- und Preiseffekte zu unterscheiden und ermöglichen somit einen genaueren Blick auf die Trends vor und während des Kriegs zu werfen.

Im Jahr 2021 wurden Güter mit einem Handelsvolumen von 185,6 Milliarden Euro aus Russland importiert. Die Importvolumen aus der Ukraine betrugen rund 40,3 Milliarden Euro. Dieser Niveauunterschied ist nicht überraschend, da Russland auch die dreifache Einwohnerzahl aufweist. Auch die Exporte nach Russland waren 2021 um diesen Faktor größer.

Aufgrund der starken Preisentwicklungen ist es aber unabdingbar auch die Mengenentwicklungen (Daten sind verfügbar in Kilogramm) zu betrachten. Abbildung 1 zeigt die Indizes des Handelsvolumens (Werte), der Mengen und der Preise der Ex- und Importströme von Gütern der EU27 mit Russland und der Ukraine, wobei Jänner 2021 die Basis bildet. Diese Darstellung lässt die Trends dieser drei Indikatoren besser erkennen, blendet die absoluten Größen aber aus.

Die Graphik zeigt, dass sich die Exportvolumen nach Russland bis Februar 2022 stabil gehalten haben (im Vergleich zu März 2021) und für die Ukraine bis Dezember 2021 sogar gestiegen sind, danach aber auf etwa die Hälfte gefallen sind. Die Exportvolumen in die Ukraine konnten sich im April und Mai dieses Jahres schon fast wieder auf Vorkriegsniveau erholen. Auch bei den Exportvolumen nach Russland scheint im Mai ein Aufwärtstrend erkennbar. Die Aufteilung nach Mengen- und Preiseffekten zeigt aber, dass der Aufwärtstrend vorrangig durch eine Preissteigerung getrieben wird: die Exportmengen stiegen von 511 Mio kg im April um nur 7 % auf 546 Mio kg im Mai, während sich die durchschnittlichen Exportpreise um 26 % erhöhten. Die Steigerungen der Exportmengen sind vor allem in der Produktgruppe 84 (Kernreaktoren, Kessel, Maschinen, Apparate und mechanische Geräte; sowie Teile davon) zu finden: spezialisierte Maschinen von Hebe- und Beladegeräten über Mäh- und Dreschgeräten bis hin zu Verbrennungsöfen (Produkte, welche scheinbar nicht sanktioniert sind) wurden im Mai verstärkt nach Russland exportiert.

Wenig überraschend lässt sich erkennen, dass die Handelsvolumen der Importe aus Russland ab März 2022 und der Ukraine ab Februar 2022 einen Rückgang erfahren haben (und im Mai 2022 bereits wieder gestiegen sind). Durch die Aufsplittung des Importvolumens in Mengen und Preise zeigt sich, dass die Menge an Importen der EU aus der Ukraine stärker zurück ging als aus Russland, wo die Importmengen nur wenig sanken. Weiters ist erkennbar, dass vor allem der Preis von Importen aus Russland seit Jänner 2021 gestiegen ist und erst im Mai 2022 einen Rückgang verzeichnet hat. Und der Preisanstieg ist sogar für die gestiegenen Importvolumen verantwortlich: Die Importmenge war bis Jänner 2022 um etwa 8 % geringer (im Vergleich zu Jänner 2021) und ging danach noch weiter zurück (-25 % in Mai 2022).

Abbildung 2 zeigt die EU27-Handelsströme mit der Ukraine aufgeschlüsselt nach Produktgruppen. Die drei am meisten gehandelten Produktgruppen waren 2021 Güter des Industriebedarfs, Investitions- und Konsumgüter. Der Krieg scheint dabei schon Veränderungen gebracht zu haben: Seit April werden vermehrt Kraft- und Schmierstoffe und Fahrzeuge in die Ukraine exportiert. Es zeigt sich, dass sowohl die Mengen als auch die Volumen der Exporte in die Ukraine in fast allen Produktgruppen nach Februar 2022 stark fielen, sich aber wieder rasch erholten. Insbesondere ist – im Vergleich zu den Vorperioden – ein Anstieg in der Kategorie „Güter anderweitig nicht angegeben“ (orange Linie) zu bemerken, da darunter unter anderem Waffen und Munition fallen. Deren Exporte sind von 0,5 Mio. Euro im Jänner auf 133 Mio. Euro im Mai angestiegen.

Die Importe aus der Ukraine bestehen vor allem aus Gütern des Industriebedarfs (61 % des Importvolumen) und Nahrungsmittel (21 % des Importvolumens). Nach dem Einbruch im Februar ist für alle Produktgruppen eine leichte Erholung im Mai 2022 feststellbar. Es gibt Anzeichen dafür, dass die Erholungsphase weiter anhält: Russland und die Ukraine haben durch die Vermittlung der Türkei ein Abkommen unterzeichnet, welches die sichere Ausfuhr von Getreide feststellen soll. Einige mit Getreide und anderen Nahrungsmittel beladene Schiffe haben seither den Hafen von Odessa verlassen.

Das Volumen der Exporte nach Russland ging ab März stark zurück, scheint aber ab Mai einen kleinen Aufschwung zu zeigen, was auf die Preissteigerungen zurückgeführt werden kann. Die Exporte an Fahrzeugen (in Mio. Euro) sind von Jänner bis Mai um 85 % gefallen, wobei jedoch ein leichter Anstieg im letzten Monat zu erkennen ist.

Bei den Importen aus Russland macht die Kategorie „Kraftstoffe und Schmierstoffe“ 69 % des Gesamtwertes aus. Güter des Industriebedarfs machten weitere 27 % aller Importe aus, die restlichen Kategorien fallen mit 1 % oder weniger kaum ins Gewicht.

Ab März fallen die Importmengen in den meisten Produktkategorien. Dabei hat sich das Wertvolumen für die Produktkategorie Kraftstoffe und Schmierstoffe seit Jänner 2021 mehr als verdoppelt, während das Mengenvolumen annähernd gleichgeblieben ist, was somit auf starke Preisanstiege zurückzuführen ist.

Allgemein sind diese starken Preisanstiege – und nicht nur bei Importen von Rohstoffen wie Gas oder Öl – der wichtige Faktor, warum es Russland gelungen ist, in den ersten sechs Monaten von 2022 einen Handelsüberschuss von 138,5 Mrd Dollar zu erzielen. Insgesamt zeigt sich, dass aufgrund des Angriffskrieges Russlands gegen die Ukraine der Handel starken Änderungen unterworfen war. Dabei ist jedoch aufgrund der starken Preisdynamik insbesondere wichtig, die Entwicklungen in Mengeneinheiten zu betrachten, um ein realistisches Bild der Entwicklungen zu zeigen.

Autor: Mag. Dipl. Ing. Oliver Reiter (wiiw)

Oliver Reiter ist Ökonom und Data Scientist am Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche (wiiw). Seine Forschungsschwerpunkte sind internationaler Handel, nicht-tarifäre Maßnahmen im Handel, die Erstellung/Aktualisierung einer multiregionalen Input-Output-Datenbank (wie WIOD) und agentenbasierte makroökonomische Modelle. Er hat einen Bachelor- und einen Master-Abschluss in Volkswirtschaft, einen Bachelor-Abschluss in Statistik und einen Master-Abschluss in Informatik, alle von der Universität Wien.

Die Graphiken wurden von Karl Gmeiner erstellt. Karl Gmeiner ist Schüler am Europagymnasium Baumgartenberg und absolvierte im Sommer 2022 ein Volontariat am wiiw.

FIW-Spotlight: Importabhängigkeiten der EU bei Vorleistungsprodukten

Die Lieferkettenprobleme im Zuge der COVID-19 Pandemie als auch des ungerechtfertigten Angriffskrieges Russlands gegen die Ukraine und die damit einhergehenden ökonomischen – aber auch sozialen und humanitären – Auswirkungen und Sanktionsmaßnahmen haben die Abhängigkeiten hinsichtlich der Importe von Vorleistungsprodukten vor allem aus dem Nicht-EU Ausland schmerzhaft deutlich gemacht. Die zukünftige geo-politische und -ökonomische Entwicklung ist jedenfalls unsicherer denn je, worauf es Antworten zu finden gilt. Das wirft zunächst die Frage auf, wie groß der Anteil der Vorprodukte ist, die aus Nicht-EU27 Ländern importiert werden. Dies wird in diesem Beitrag zunächst mit Daten aus dem Jahr 2018 gezeigt, wobei natürlich derzeitige Veränderungen – insbesondere hinsichtlich der Rolle Russlands – nicht berücksichtigt werden konnten. Wie Abbildung 1 zeigt, reicht der Anteil der aus Nicht-EU27 Ländern importierten Vorleistungsprodukten von 33% in Irland bis zu 7% in Rumänien. Für Österreich beträgt dieser Anteil etwa 10%.

Der Anteil der importierten Vorleistungen aus Russland liegt bei den meisten Ländern unter 4% (des gesamten Vorleistungsverbrauchs) und ist nur für Litauen und Bulgarien mit etwa 10% wesentlich höher. Österreich hat aus dieser makroökonomischen Sicht mit etwa 0,5% eine eher geringe Abhängigkeit von Russland zu verzeichnen. Der Anteil Chinas bei den Vorleistungsprodukten liegt für die meisten Länder ebenfalls in etwa dieser Größenordnung. Estland, Ungarn, oder Tschechien liegen hier mit Werten bis etwa 2,5% an der Spitze. Für Österreich liegt der Wert der importierten Güter aus China bei etwa 1%. Betrachtet man die EU27 als ein Land stammen gemäß dieser Daten fast 12% der verwendeten Vorleistungen aus dem Ausland, davon 1% aus Russland und 1,2% aus China.

Betrachtet man nur die Importe von Vorleistungsgütern aus Nicht-EU27 Ländern (Abbildung 2) zeigt sich, dass etwas mehr als 40% aus den USA, dem Vereinigten Königreich, Schweiz, Japan und Norwegen stammen. China mit 11% und Russland mit 9% weisen ebenfalls größere Anteile auf. Diese sieben Länder machen somit etwa 60% der importierten Vorleistung Europas aus. Indien, Türkei, Singapur und Korea haben Anteile von etwa 2%. 24 der 64 in den Daten enthaltenen Länder haben weniger als 1% Importanteil.

Allerdings kann schon das Fehlen einzelner Produkte Produktionsprozesse lahmlegen oder zumindest verzögern. Bekannte und derzeit akute Beispiele dafür sind die Importabhängigkeit vom russischen Gas, besonderen Rohstoffen wie Palladium oder Nickel oder auch komplexeren Produkten wie Kabelbäumen, die aufgrund des Angriffskrieges Russlands in der Ukraine nicht mehr produziert werden können.

Legt man den Fokus auf den Güterhandel zeigt eine Auswertung detaillierter Handelsdaten (UN COMTRADE HS96, Durchschnitt der Jahre 2018-2020), dass bei fast 140 Produkten (von mehr als 5.000) der Importanteil aus einem Land bei mehr als 90% liegt. Setzt man die Grenze mit 75%, sind es bereits fast 600 Produkte, die einen hohen Konzentrationsanteil aufweisen. Abbildung 3 zeigt die Abhängigkeiten von einzelnen Partnerländern nach Produkten für die wichtigsten Importpartner. Beispielsweise hat China bei 34 Produkten einen Importanteil von mehr als 90% und bei 205 Produkten von mehr als 75%.

Die rezente Diskussion über Risiken, Resilienz und Robustheit von Wertschöpfungsketten zeigt einerseits die vielfältigen Formen von potenziellen Schocks auf, wobei angebotsseitige Versorgungsengpässe, nachfrageseitige Einbrüche oder plötzliche Anstiege sowie Unterbrechungen der Transportwege als wichtigste genannt werden. Gegeben diese unterschiedlichen potenziellen Ursachen für Störungen in den Wertschöpfungsketten gestalten sich auch die wirtschaftspolitischen und firmenspezifischen Maßnahmen unterschiedlich je nach Produkt, Herkunftsland oder -region und Wichtigkeit betreffend Produktionsprozesse und gesamtwirtschaftliche Notwendigkeiten. Diese reichen von Diversifikationsstrategien hinsichtlich Anbieter und Transportwege, Aufbau oder Erhaltung redundanter Produktionskapazitäten, Bevorratung und Maßnahmen zur Verbesserung der Information bezüglich Struktur und Transparenz von Lieferketten (z.B. Stress-Tests von Lieferketten). Empirische Analysen und wirtschaftspolitische Schlussfolgerungen sind aufgrund der unsicheren und risikoreichen zukünftigen Entwicklungen notwendiger denn je.

Autor: Univ.-Doz. Dr. Robert Stehrer (wiiw)

Robert Stehrer ist wissenschaftlicher Leiter am Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche (wiiw). Seine Expertise deckt ein breites Feld der Wirtschaftsforschung ab, das von Fragen der internationalen Integration, des Handels und der technologischen Entwicklung bis hin zu Arbeitsmärkten und angewandter Ökonometrie reicht. Seine jüngsten Arbeiten konzentrieren sich auf die Analyse und die Auswirkungen der Internationalisierung der Produktion und des Wertschöpfungshandels. Weitere Beiträge beziehen sich auf den Zusammenhang von Digitalisierung, Demographie, Produktivität und Arbeitsmärkte. Er studierte Volkswirtschaft an der Johannes Kepler Universität und Soziologie am Institut für Höhere Studien (IHS) und ist Lektor für Wirtschaftswissenschaften an der Wirtschaftsuniversität Wien (WU Wien) und der Technischen Universität Wien (TU Wien).