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FIW-Spotlight: Das riskante geldpolitische Experiment der Türkei

Die türkische Wirtschaft hatte in den letzten Jahren mit einer rasanten Abwertung der Lira und einem starken Anstieg der Inflation zu kämpfen. Dies mag zwar den Schwierigkeiten der Schwellenländer in den 1990er Jahren ähneln und spiegelt zum Teil auch den Inflationsdruck wider, unter dem ganz Europa derzeit leidet, doch die zugrundeliegenden Mechanismen sind andere und größtenteils selbstverschuldet. Die jüngste wirtschaftliche Situation in der Türkei, dem sechstgrößten Handelspartner der EU mit einem Anteil von 3,3%, führt uns die Folgen einer falschen Geldpolitik eindringlich vor Augen.

Die Europäische Union bleibt trotz eines rückläufigen Trends in den letzten Jahren der größte Export- und Importpartner der Türkei (Abbildung 1). Zwischen 2018 und 2022 sank der Anteil der türkischen Exporte in die EU von 43,1 % auf 40,5 %, während der Anteil der Importe von 33,3 % auf 25,6 % zurückging. Österreich hat einen geringeren Anteil am Gesamthandel der Türkei: Der Exportanteil der Türkei nach Österreich blieb in den letzten Jahren relativ stabil bei rund 0,7 %, der Importanteil sank jedoch von 0,7 % im Jahr 2018 auf 0,5 % im Jahr 2022. Aus europäischer Sicht ist die Türkei mit 3,3 % der sechstwichtigste Handelspartner der EU. Der Anteil der Türkei am österreichischen Handel beträgt rund 0,7 % (inkl. Intra-EU-Handel).

In den letzten zehn Jahren sah sich die Türkei mit einer Reihe von Herausforderungen konfrontiert, darunter instabile Wachstumsraten, eine erhebliche Währungsabwertung und ein Anstieg der Inflation (Abbildung 2). In den letzten Jahren haben sich diese Probleme verschlimmert, was zum Teil auf externe Faktoren wie die COVID-19-Pandemie und den Krieg in der Ukraine zurückzuführen ist. Dies führte zu einem sehr unausgewogenen Wachstumsmuster und einer erheblichen Anhäufung potenzieller Risiken innerhalb des Wirtschaftssystems. Die unkonventionelle türkische Geldpolitik, die durch niedrige Zinssätze und eine starke Abhängigkeit von Krediten gekennzeichnet ist, hat wesentlich zur Verschärfung dieser Probleme beigetragen. Da sich Präsident Erdogan nun eine weitere Amtszeit gesichert hat, sind die Sorgen über die Ausrichtung der Geldpolitik größer denn je und stellen die künftige Stabilität der türkischen Wirtschaft in Frage.

Dabei ist es jedoch wichtig darauf hinzuweisen, dass die wirtschaftliche Situation nicht immer so war. In den ersten zehn Jahren der Regierungszeit von Präsident Erdogan galten sowohl er als auch die AKP weithin als fähig, konservativ und umsichtig in ihrem wirtschaftspolitischen Ansatz. Doch ab Mitte der 2010er Jahre sah sich die Türkei mit erheblichen Herausforderungen konfrontiert. Das politische Risiko nahm zu, etwa durch die Gezi-Park-Proteste im Jahr 2013 und dem Putschversuch im Jahr 2016. Zum Teil als Reaktion darauf begann die Regierung, die Kapazitäten und die Unabhängigkeit der staatlichen Institutionen zu untergraben. 

Um dem wirtschaftlichen Abschwung in diesem Zeitraum entgegenzuwirken, ergriff die Regierung Maßnahmen wie umfangreiche Infrastrukturinvestitionen und niedrige Zinssätze, um die Kreditaufnahme im Inland zu fördern (Abbildung 3). Es entstand der Eindruck, dass die Zentralbank gezwungen war, die Zinssätze niedrig zu halten. Diese Maßnahmen führten jedoch zu steigender Inlandsnachfrage und Importen und somit zu erheblichen Handelsbilanzdefiziten. Das wiederum bedingte eine höhere ausländische Verschuldung und führte zu einer raschen Abwertung der Lira und einem Vertrauensverlust in die Geldpolitik, der durch längere Phasen negativer realer Zinssätze und zunehmendem Inflationsdruck ausgelöst wurde.

Das geldpolitische Experiment der Türkei als Heilmittel gegen Wachstumsverlangsamung und steigende Inflation

Die Unabhängigkeit der Zentralbank in der Türkei wurde in den letzten Jahren immer weiter zurückgenommen. Das Vorgehen von Präsident Erdogan zeigt, dass er nicht zögert, Zentralbanker und Finanzminister zu entlassen, wenn sie nicht seinen Wünschen entsprechen. Seit 2020 wurden drei Beamte ohne eine klare Erklärung aus ihren Ämtern entlassen, was zu Spekulationen führte, dass ihre Weigerung, die Zinssätze weiter zu senken, der Hauptgrund für die Entlassung gewesen sein könnte.[1] Präsident Erdogan ist der Ansicht, dass höhere Zinssätze die Ursache für steigende Preise sind, nicht aber ein Mittel dagegen. Er argumentiert, dass niedrige Zinsen die Verbraucherausgaben, die Investitionen der Unternehmen und die Schaffung von Arbeitsplätzen fördern werden. Er behauptet auch, dass eine schwächere türkische Lira gegenüber dem US-Dollar die Exporte erschwinglicher machen würde, was zu einer erhöhten Nachfrage seitens ausländischer Verbraucher führen würde.

An diesen Argumenten ist etwas Wahres dran. Die schwächere Lira scheint dem Exportwachstum in den letzten Jahren tatsächlich geholfen zu haben. Und die billigen Kredite haben sicherlich die Verbraucherausgaben gestützt. Doch diese Politik hat erhebliche Konsequenzen. Die Türkei ist in hohem Maße von Einfuhren wie Kraftstoff, Gas, Medikamenten, Düngemitteln und anderen Rohstoffen abhängig. Wenn der Wert der Lira sinkt, steigen die Kosten für den Kauf dieser importierten Waren. Darüber hinaus hat die unkonventionelle Geldpolitik von Präsident Erdogan bei ausländischen Investoren, die zuvor bereit waren, türkischen Unternehmen erhebliche Geldbeträge zu leihen, Bedenken geweckt. Darüber hinaus wird durch die Einführung des Lira-Sparplans „KKM“, einer staatlich unterstützten, währungsgesicherten Einlage, das Risiko von Wechselkursschwankungen auf den öffentlichen Sektor übertragen, was zu erheblichen Eventualverbindlichkeiten führt und ein Risiko für die inländische Finanzstabilität darstellt.

Anfang 2022, als die Zentralbanken in Europa und den Vereinigten Staaten begannen, ihre Geldpolitik zu straffen und die Zinssätze zu erhöhen, um die Inflation zu bekämpfen, begann die türkische Zentralbank, ihre Zinssätze zu senken. Diese unkonventionelle Strategie hat zu einer starken Abwertung der Lira und zu immer höheren Inflationsraten geführt, wobei die jährliche Inflationsrate im Oktober 2022 mit über 85 % ein 24-Jahreshoch erreichte. Viele Analysten glauben, dass die tatsächliche Inflationsrate auf der Straße noch höher ist, als die offiziellen Zahlen vermuten lassen.[2]

Um den Auswirkungen der steigenden Inflation zu begegnen, hat die türkische Regierung mehrere Maßnahmen ergriffen. Das sind vor allem die Anhebung des Mindestlohns und der Löhne im öffentlichen Dienst um 55 % bzw. 45 %. Neben der Einführung des KKM-Systems hat die Regierung auch strenge Vorschriften für Fremdwährungstransaktionen von Unternehmen durchgesetzt. Die Wirksamkeit dieser Maßnahmen scheint jedoch begrenzt zu sein. Im April 2023 lag die jährliche Inflationsrate der Türkei bei 43,7 %, was aufgrund von Basiseffekten einen Abwärtstrend darstellt, aber im Vergleich zu anderen Ländern immer noch sehr hoch ist.
Steigende Inflationsraten in der Türkei, zusammen mit einem Anstieg der Importpreise und Produktionskosten, stellen Haushalte und Unternehmen gleichermaßen vor große Schwierigkeiten. Haushalte mit niedrigem Einkommen können sich die Grundbedürfnisse kaum noch leisten, da die Preise in die Höhe schießen, während es für Unternehmen aufgrund unvorhersehbarer Erträge und steigender Kosten schwierig ist, zu planen und in neue Projekte zu investieren. In der Türkei wird die Inflation, wie in jedem anderen Land auch, von Faktoren beeinflusst, die sowohl mit der Nachfrage als auch mit den Kosten zusammenhängen. Daher würde eine Anhebung der Zinssätze allein das Problem nicht lösen, da auch Kostenfaktoren wie die höheren Energiepreise zu berücksichtigen sind. Dennoch ist klar, dass solange die Realzinsen tief im negativen Bereich liegen, die Lira abwerten, die importierte Inflation ansteigen und die Wirtschaft leiden wird.

Wie sieht die Zukunft aus?

Da sich Präsident Erdogan nun eine weitere Amtszeit gesichert hat, ist eine unmittelbare Änderung der Geldpolitik nach den Wahlen unwahrscheinlich. In Anbetracht der Tatsache, dass Präsident Erdogan in der Vergangenheit immer wieder seine Politik geändert hat, und angesichts des Drucks, den die schwächelnde Lira und die hohe Inflation auf die Wirtschaft ausüben, ist ein Kurswechsel zumindest jedoch möglich. Sollte die Zentralbank die Zinssätze anheben, wäre dies nicht das erste Mal, dass sie ihren Kurs abrupt ändert, da ähnliches 2018 und 2020 geschah. Der Zeitpunkt einer etwaigen Kehrtwende wird von den wirtschaftlichen Folgen der derzeitigen Politik abhängen. Wenn die Lira weiter fällt, werden die Eventualverbindlichkeiten des Staates im Zusammenhang mit dem KKM und anderen potenziellen Risiken eskalieren. Daher scheint es plausibel anzunehmen, dass Anpassungen vorgenommen werden können.

Eine genaue Bewertung der Nachfrage- und Kostenfaktoren ist nach wie vor von entscheidender Bedeutung für die wirksame Steuerung der Inflation und den Einsatz der Zinspolitik in der Türkei. Eine Änderung des geldpolitischen Kurses hin zu einer eher orthodoxen Politik, die auf geringe positive Realzinsen abzielt, würde zwar nicht alle wirtschaftlichen Probleme der Türkei lösen, aber sicherlich die makroökonomische Stabilität verbessern und die Grundlage für eine stabilere Wachstumsrate schaffen. Aber trotzdem hat sich die Wirtschaft als bemerkenswert widerstandsfähig erwiesen. Wenn weiterhin ausländische Gelder zur Deckung des hohen Leistungsbilanzdefizits fließen, ist es wahrscheinlich, dass das Jahr 2023 mit einer Wachstumsrate von etwa 2,6 % und einer Inflationsrate zwischen 40 und 50 % endet, was den Druck auf den Wechselkurs im Laufe des Jahres allmählich verringern wird.

[1] Siehe Reuters (2021), Factbox: Revolving door: Turkey’s last four central bank chiefs, available at https://www.reuters.com/world/middle-east/revolving-door-turkeys-last-four-central-bank-chiefs-2021-10-08/ und CNBC (2021), Turkey’s Erdogan names Nebati as new finance minister as lira skids, verfügbar unter https://www.cnbc.com/2021/12/02/turkeys-erdogan-names-nebati-as-new-finance-minister-as-lira-skids.html.
[2] Siehe DW (2022), Inflation in Turkey: Researcher won’t hide the figures Erdogan doesn’t want to see, available at https://www.france24.com/en/asia-pacific/20220622-inflation-in-turkey-researcher-won-t-hide-the-figures-erdogan-doesn-t-want-to-see, und Euronews (2022), Soaring inflation and a collapsing currency: Why is Turkey’s economy in such a mess?, verfügbar unter https://www.euronews.com/2022/11/09/everything-is-overheating-why-is-turkeys-economy-in-such-a-mess.

Autor:innen:

Meryem Gökten ist Ökonomin am Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche (wiiw) und Länderexpertin für die Türkei. Ihre Forschungsschwerpunkte sind makroökonomische Analysen, Fiskal- und Geldpolitik. Zuvor arbeitete sie Ökonomin in der Abteilung Finanzmärkte und Institutionen am Centre for European Policy Studies (CEPS) und als Beraterin in der Abteilung Länder- und Finanzsektoranalyse der Europäischen Investitionsbank (EIB). Meryem Gökten hat einen Master-Abschluss in Volkswirtschaft der Universität Freiburg und einen Bachelor-Abschluss der Universität Heidelberg.

Richard Grieveson ist stellvertretender Direktor am wiiw und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Diplomatischen Akademie Wien. Er ist auf die Volkswirtschaften Mittel-, Ost- und Südosteuropas spezialisiert, mit besonderem Schwerpunkt auf der Türkei und dem Westbalkan. Zuvor arbeitete er als Direktor im Emerging Europe Sovereigns Team bei Fitch Ratings und als Regional Manager im Europa-Team der Economist Intelligence Unit.Er verfügt über Abschlüsse der Universitäten Cambridge, Wien und Birkbeck.

Die Graphiken wurden von Alireza Sabouniha erstellt. Alireza Sabouniha ist Research Assistant am wiiw und absolviert derzeit sein Masterstudium in Volkswirtschaft an der WU Wien.

Rohstoffpreise im Spannungsfeld zwischen geldpolitischer Straffung und dem Ukraine-Krieg

Die globale Inflationsdynamik in den letzten Jahren spiegelt zum großen Teil die großen Schwankungen der Rohstoffpreise wider. Diese Schwankungen wurden im Wesentlichen durch die zwei aufeinanderfolgenden Schocks ausgelöst: die COVID-19-Pandemie und den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Während die Pandemie zunächst einen Rückgang der Rohstoffpreise bewirkte, sorgten das Ende der Pandemie und der Krieg zunächst für einen rasanten Anstieg. Trotz der Stabilisierung in den letzten Monaten liegen sie zum Teil nach wie vor deutlich über dem langjährigen Durchschnitt.

Die Verhängung strikter Mobilitätsbeschränkungen im Zuge der COVID-19-Pandemie hatte zunächst einen deutlichen Rückgang der Rohstoffpreise zur Folge. In den ersten drei Monaten von 2020 sind beispielsweise die Preise für Metalle und Mineralien um 16% und diejenigen für Energie gar um das nahezu Dreifache gesunken, während die Preise für Nahrungsmittel weitgehend konstant blieben (Abbildung 1). Der rasante Einbruch vor allem der Erdölpreise war auch dadurch bedingt, dass sich die führenden Produzenten Saudi-Arabien und Russland zunächst nicht auf eine Kürzung der Lieferungen einigen konnten. Nach dem erreichten Tiefstand im April 2020 haben sich die Rohstoffpreise im Zuge der allmählichen Lockerung von COVID-19-Maßnahmen und der globalen Konjunkturbelebung wieder erholt.

Russland und die Ukraine wichtig für globale Energie- und Agrarmärkte

Der im Februar 2022 begonnene Krieg Russlands gegen die Ukraine hat den globalen Rohstoffpreisen einen weiteren Schub gegeben. Die westlichen Sanktionen gegen die führenden russischen Ölunternehmen und die Ankündigung eines für Dezember 2022 angepeilten EU-Importembargos für russisches Öl hatten zunächst einen deutlichen Anstieg der Ölpreise zur Folge. Gegen Mitte Juni 2022 kletterte etwa der Preis von Brent auf 122 $ pro Fass und lag damit um 54% höher als am Anfang des Jahres. Außerdem trieb die Kürzung von Gaslieferungen durch Russland die europäischen Gaspreise in die Höhe. Im Jahresdurchschnitt von 2022 sanken die Pipeline-Gasimporte in die EU aus Russland um 55% und betrugen gegen Jahresende nur noch ein Fünftel des Vorjahresniveaus (McWilliams, Sgaravatti und Zachmann, 2021).[1] Der Großhandelspreis für Gas in der EU erreichte Ende August 2022 mit über 300 € pro MWh seinen historischen Höchststand und war im Durchschnitt des dritten Quartals 2022 fast 3,5 mal so hoch wie vor einem Jahr (European Commission, 2023).

Auch die Preise für mehrere wichtige Agrarwaren, wie Weizen, Mais und Zucker, zogen zunächst deutlich an. Der Börsenpreis von Weizen in den USA stieg beispielsweise zwischen Anfang Jänner 2022 und Mitte Mai 2022 um 57% (auf US-Dollar-Basis). Russland und die Ukraine waren historisch gesehen wichtige Getreideproduzenten und etwa für ein Drittel der globalen Getreideexporte vor dem Krieg verantwortlich. Die landwirtschaftliche Produktion in den vom Krieg schwer betroffenen ukrainischen Gebieten hat aber stark gelitten. Zusätzlich fielen die meisten Meereshäfen des Landes, über die ein Großteil der Agrarexporte abgewickelt wurde, für mehrere Monate nahezu aus.

Ausblick mit vielen Risiken behaftet

Mittlerweile haben sich die Rohstoffpreise wieder stabilisiert bzw. sind sogar zurückgegangen(Abbildung 1). Einerseits war dafür die Abkühlung der globalen Konjunktur im Zuge der geldpolitischen Straffung ausschlaggebend, was vor allem die Entwicklung der Preise für Metalle und Mineralien beeinträchtigte. Andererseits haben dazu auch die neu verhängten Sanktionen gegen russisches Erdöl – das weitgehende Importembargo in die EU und die Einführung von Preisobergrenzen für Lieferungen in Drittländer (seit Dezember 2022 für Rohöl und seit Februar 2023 für Ölprodukte) – beigetragen. Die Erdgaspreise in Europa waren seit August 2022 ebenfalls rückläufig, was den gut gefüllten Speichern, stark gestiegenen Importen von Flüssiggas (vor allem aus den USA) sowie den relativ milden Witterungsbedingungen zu verdanken war. Insgesamt sind dadurch die globalen Energiepreise seit August 2022 um 36% zurückgegangen. Die Lebensmittelpreise waren bereits seit Mai 2022 im Sinkflug, zum Teil aufgrund der guten Ernte in vielen Teilen der Welt. Auch das Ende Juli 2022 beschlossene Schwarzmeergetreideabkommen, das es ermöglichte, einen Großteil der Getreideexporte aus der Ukraine wieder auf den Weltmarkt zu bringen, hat eine positive Rolle gespielt (UNCTAD, 2023).

Der Ausblick in puncto weitere Rohstoffpreisentwicklung ist jedoch mit vielen Risiken behaftet. Die jüngste Abkehr von der Null-COVID-Politik wird für eine höhere Nachfrage nach Rohstoffen sorgen. Die Preise für Metalle und Mineralien haben bereits darauf reagiert und sind seit dem Tiefstand im Oktober 2022 um 17% gestiegen. Auch die Ausfälle bei der Stahlproduktion in der Türkei infolge des Erdbebens trugen zum Preisanstieg bei. Der weitere Verlauf des Ukraine-Krieges und des geopolitischen Konflikts zwischen dem Westen und Russland (und auch China) bleibt ein wichtiger Risikofaktor, der sowohl die Zukunft des Schwarzmeergetreideabkommens als auch die weiteren Gaslieferungen aus Russland in die EU infrage stellen kann. Sollte es aufgrund der sehr niedrigen Importe aus Russland nicht gelingen, die europäischen Gasspeicher rechtzeitig vor dem Winter 2023/24 zu füllen, ist eine Wiederholung der Energiekrise nicht auszuschließen, was einen erneuten Anstieg der Energiepreise mit sich bringen könnte.

Referenzen

European Commission (2023), Quarterly report on European gas markets, Vol. 15, Issue 3, DG Energy, https://energy.ec.europa.eu/data-and-analysis/market-analysis_en#gas-market—recent-developments

McWilliams, B., G. Sgaravatti, G. Zachmann (2021), European natural gas imports, Bruegel Datasets, first published 29 October, https://www.bruegel.org/dataset/european-natural-gas-imports

UNCTAD (2023), A trade hope: the impact of the Black Sea Grain Initiative. March, https://unctad.org/system/files/official-document/osginf2023d3_en.pdf

Autor: Vasily Astrov (wiiw)

Vasily Astrov ist Ökonom am wiiw und Länderexperte für Russland und andere GUS-Länder. Seine Forschungsschwerpunkte sind makroökonomische Analysen und Energiefragen. Er ist außerdem Herausgeber des wiiw-Monatsberichts. Er sammelte umfassende akademische und internationale Erfahrungen im Vereinigten Königreich (University of Warwick), Deutschland (Westfälische Wilhelms Universität), Norwegen (Universität Oslo) und Russland (Universität St. Petersburg) und absolvierte ein Studium der Wirtschaftswissenschaften (M.Sc., Dipl.-Volksw.) und Geographie (B.A.).

Die Graphiken wurden von Alireza Sabouniha erstellt. Alireza Sabouniha ist Research Assistant am wiiw und absolviert derzeit sein Masterstudium in Volkswirtschaft an der WU Wien.


[1] Nach den mysteriösen Explosionen bei Nord Stream 1 (und Nord Stream 2) Ende September 2022 wurden die Lieferungen über diese Route komplett eingestellt.

Frauen in der österreichischen Außenwirtschaft

Frauen in exportorientierten Unternehmen

Trotz der verfassungsmäßigen Absicherung der Gleichstellung von Frauen und Männern und des Konsensus, diese zu erreichen, bestehen in Österreich nach wie vor große Unterschiede in soziökonomischen Merkmalen. Diese betreffen etwa die Erwerbsbeteiligung als auch die Höhe von Löhnen und Gehälter (Böheim, Fink & Zulehner, 2023). Diese Unterschiede können zum Teil durch Faktoren wie die ungleiche Verteilung von Familienarbeit zwischen den Geschlechtern erklärt werden. Dennoch bleibt eine Restgröße, die auf ein gewisse „Diskriminierung“ von Frauen im Erwerbsleben und am Arbeitsmarkt hinweist.

Da Frauen auf dem Arbeitsmarkt häufig weniger flexibel sind, kann die Globalisierung das Lohngefälle zwischen den Geschlechtern noch verschärfen. Internationalisierte Unternehmen könnten die Flexibilität der Arbeitskräfte höher wertschätzen als nur im Inland tätige Unternehmen, was für Frauen aufgrund von Care-Arbeit oftmals ein Nachteil ist. In der Literatur wird auf den stärkeren internationalen Wettbewerb verwiesen, weshalb Exporteure von ihren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern oftmals ein größeres Maß an Engagement und mehr Flexibilität verlangen (Kvande, 2009, Bøler, Javorcik & Ulltveit-Moe, 2018).

Die Internationalisierung kann jedoch auch ein Faktor für die Verringerung des Lohngefälles zwischen Männern und Frauen sein. Eine stärkere Beteiligung am internationalen Handel schafft Wachstumspotentiale, die eine höhere Nachfrage – auch nach Frauen am Arbeitsmarkt – generieren. Dies könnte zu einer stärkeren Erwerbsbeteiligung von Frauen führen (Oostendorp, 2009). Dieses Spotlight gibt einen ersten Eindruck über die Arbeitsmarktpartizipation von Frauen in international tätigen österreichischen Unternehmen auf Basis von erstmalig für die wissenschaftliche Forschung verfügbaren Registerdaten der amtlichen Statistik von 2013-2019.

Höhere Flexibilitätsanforderungen bei mehr Flexibilität…

Der Frauenanteil in österreichischen Unternehmen ist im Dienstleistungsbereich deutlich höher als in der Industrie oder im Baugewerbe. Dies gilt sowohl für exportierende als auch für nur im Inland tätige Unternehmen. Unter Berücksichtigung von Branchen-, Größen- und Produktivitätsunterschieden zwischen Unternehmen zeigt sich, dass exportierende Unternehmen im Durchschnitt einen rund 3.5 Prozentpunkte höheren Frauenanteil aufweisen als vergleichbare Unternehmen, die nur am heimischen Markt aktiv sind. Zu ähnlichen Ergebnisse kommt auch eine kürzlich veröffentlichte Studie der OECD (2023) für ausländische Direktinvestitionen in Österreich. Österreichische Exportunternehmen mit Handelspartnern in weit entfernten Ländern weisen einen um etwas 6-8% höheren Frauenanteil auf (siehe Abbildung 1). Es bestehen aufgrund von Zeitzonendifferenzen höhere Flexibilitätsanforderungen, um die Erreichbarkeit per Telefon und E-Mail sowie technische Unterstützung und Zusammenarbeit zu gewährleisten.

Abbildung 1: Frauenanteil in exportierenden Unternehmen (in %)

Anmerkung: Durchschnittlicher Frauenanteil nach Unternehmenstyp, 2013-2019.  „+/- 4h Exporter“ umfassen alle Unternehmen, mit überwiegenden Exportdestinationen mit einer Zeitzonendifferenz von mindestens 4 Stunden. Ausreißer ausgeschlossen.
Quelle: Austrian Micro Data Center, Statistik Austria, 2013-2019. WIFO Darstellung.

Abbildung 2: Anteil an Teilzeitbeschäftigen (in %)

Anmerkung: Durchschnittliche Teilzeitbeschäftigungsquote nach Unternehmenstyp, 2013-2019. „+/- 4h Exporter“ umfassen alle Unternehmen, mit überwiegenden Exportdestinationen mit einer Zeitzonendifferenz von mindestens 4 Stunden. Ausreißer ausgeschlossen.
Quelle: Austrian Micro Data Center, Statistik Austria, 2013-2019. WIFO Darstellung.

Bei der Teilzeitbeschäftigung zeigt sich, dass mit ansteigenden Flexibilitätsanforderungen von den Beschäftigten die Teilzeitquote sinkt. Die gilt insbesondere für Frauen (siehe Abbildung 2). Bei Zeitzonenunterschieden von mehr als 4 Stunden ist es bei einer durchschnittlicher täglicher Teilzeitarbeitszeit von 4 Stunden schwierig, überschneidende Arbeitszeiten mit entfernten Geschäftspartnern zu finden. Daraus ergibt sich, dass in international aktiven Unternehmen mehr Frauen in Vollzeit beschäftigt sind. Dies gilt auch für Mütter mit Kindern im Vorschulalter. So können Frauen ihre Qualifikationen und Kompetenzen besser einbringen und Berufserfahrungen aufbauen.

Demgegenüber steigt die Teilzeitquote der Männer in exportorientierenden Unternehmen – wenn auch auf sehr niedrigem Niveau. Dies deutet darauf hin, dass Unternehmen, die im internationalen Wettbewerb stehen, zwar höhere Flexibilitätsanforderungen haben, gleichzeitig aber auch mehr Flexibilität ermöglichen, etwa bei den Arbeitsbedingungen, der Arbeitszeitgestaltung oder der individuellen Arbeitsorganisation

  

… und höheren Löhnen für Frauen in Österreich

Abbildung 3: Vollzeitlöhne für Frauen in Österreich

Anmerkung: Durchschnittliche unbereinigte Vollzeitlöhne von 2013-2019 nach Unternehmenstypen.Ausreißer ausgeschlossen.
Quelle: Austrian Micro Data Center, Statistik Austria, 2013-2019. WIFO Darstellung.

Auch beim Einkommen profitieren Frauen von höheren Vollzeitlöhnen und -gehältern in exportorientierten Unternehmen. Als Vergleich werden Unternehmen herangezogen, die ausschließlich am heimischen Markt aktiv sind (siehe Abbildung 3). Allerdings ist der Lohnaufschlag in exportierenden Unternehmen höher für Männer als für Frauen, wodurch sich der geschlechtsspezifische, unbereinigte Lohnunterschied vergrößert. Im Durchschnitt verdienten Frauen über den Zeithorizont von 2013-2019 rund 21 Prozent weniger als Männer in exportierenden Unternehmen, während Frauen in nur am inländischen Markt aktiven Unternehmen „nur“ 18 Prozent weniger als Männer verdienten. 

Somit zeigt sich für die österreichischen Exporteure, dass sie – trotz hoher Flexibilitätsanforderungen an ihre Beschäftigten – ihrerseits den Beschäftigten ebenfalls mehr Flexibilität zugestehen. Die höheren zeitlichen Flexibilitätsanforderungen der exportierenden Unternehmen gehen auch mit höheren Löhnen und Gehältern einher. Allerdings werden Männer davon stärker begünstigt.

Detaillierte Zusammenhänge zwischen der Beschäftigung von Frauen und geschlechtsspezifischen Lohnunterschieden werden im Rahmen des FIW-Projekts „Frauen in der österreichischen Außenwirtschaft“ von Birgit Meyer, Klaus Friesenbichler und Harald Oberhofer auf Basis von Mikrodaten des Austria Mirco Data Center der Statistik Austria analysiert. Die Ergebnisse werden voraussichtlich Mitte 2023 als FIW-Studie publiziert

Referenzen:

Bøler, E. A.,  B. Javorcik, und K. H. Ulltveit-Moe (2018). Working across Time Zones: Exporters and the Gender Wage Gap. Journal of International Economics 111 (1. März 2018): 122–33.

Böheim, R, M. Fink, und C. Zulehner (2023). Lohnunterschiede zwischen Frauen und Männern in Österreich von 2005 bis 2021. WIFO Research Briefs 4/2023.

Kvande, E. (2009). Work-life balance for fathers in globalized knowledge work. Some insights from the Norwegian context. Gender, Work & Organization, 16(1), 58-72.

Oostendorp, R. H. (2009). Globalization and the Gender Wage Gap. The World Bank Economic Review, 23(1), 141-161.

OECD (2023). FDI Qualities Review of Austria: Closing Gender Gaps and Empowering Women. OECD Publishing Paris.

Autor:in: Birgit Meyer (WIFO)

ist Ökonomin und in der Forschungsgruppe „Industrieökonomie, Innovation und internationaler Wettbewerb“ tätig. Zudem ist sie Lektorin am Institut für Internationale Wirtschaft an der Wirtschaftsuniversität Wien und External Research Fellow am Kieler Zentrum für Globalisierung (KCG). Sie hat einen Abschluss in Volkswirtschaft von der Universität Bonn und promovierte 2016 an der Universität Kiel. Für ihre Dissertation erhielt sie 2017 den Fakultätspreis für herausragende Promotionen der Universität Kiel. Während ihrer Promotion war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Kiel Institut für Weltwirtschaft und der Universität Kiel. Ihr Forschungsschwerpunkt liegt in der Analyse der Effekte der Globalisierung auf Innovation, Investitionen und Entwicklung. Hier fokussiert sie sich insbesondere auf die Analyse der Effekte von Auslandsdirektinvestitionen, multinationaler Unternehmen und internationalem Handel auf Unternehmens- und Branchenebene. Dazu hat sie mehrere Projekte durchgeführt, u. a. für Einrichtungen wie der Weltbank oder UNIDO. Eine Vielzahl ihrer Arbeiten wurden in akademischen Journals veröffentlicht, darunter The World Economy, World Development und Review of World Economics. Sie hält Vorträge auf zahlreichen Konferenzen und Workshops. Bei der Jahrestagung der Nationalökonomischen Gesellschaft (NOeG) 2019 erhielt sie den Young Economist Award für ihre Forschungsarbeit.

Veröffentlicht am 17.3.2023.

FIW-Spotlight: Entwicklung des Handels mit den RCEP-Staaten

Vor einem Jahr wurde das weltweit größte Handelsabkommen der Welt, das RCEP-Abkommen, abgeschlossen. Der Handel der EU und Österreichs mit dieser Region entwickelte sich in den letzten 20 Jahren sehr dynamisch, wobei China die Hauptrolle zukommt. Dabei spielen vor allem die Importe von Hochtechnologieprodukten eine wichtige Rolle, was auch strategische Abhängigkeiten impliziert, die aufgrund der geopolitischen Veränderungen stärker beachtet werden.

Das RCEP-Abkommen

Das Regional Comprehensive Economic Partnership (RCEP) Abkommen über die regionale umfassende Wirtschaftspartnerschaft im asiatischen Raum wurde im Jänner 2022 nach zehnjährigen Verhandlungen umgesetzt. Damit wurde der größte Handelsblock der Welt gebildet und somit ein weiteres Kapitel der internationalen Handelsgeschichte geschrieben. Das RCEP-Abkommen umfasst China, Japan, Südkorea, Neuseeland, Australien und die ASEAN-Staaten und gewährleistet die schrittweise Abschaffung der Zölle zwischen den RCEP-Mitgliedern bis 2040 und eine fast vollständige Öffnung des Warenhandels (90%). Aufgrund der Größe dieser Region werden längerfristig große Auswirkungen auf den globalen Handel und Wachstum erwartet. So haben die RCEP-Länder zusammen, im Vergleich zur EU, ein um etwa 70% höheres BIP und eine mehr als viermal so große Bevölkerung. Das macht eine weitere Verschiebung des geographischen Schwerpunkts des Handels in Richtung Asien-Pazifik (Quah, 2011) und weg vom Westen in den nächsten zwanzig Jahren wahrscheinlich (UNCTAD, 2021).

Starke Dynamik Richtung Asien schon vor dem Abkommen …

Es liegt auf der Hand, dass die Dynamik, mit der sich das RCEP-Abkommen auf die Zukunft des Handels auswirkt, in erster Linie von China, dem dominierenden Handelsmitglied des RCEP, abhängen wird. Auf China allein entfällt mehr als die Hälfte der Bevölkerung und Produktion in diesem Freihandelsraum. Darüber hinaus ist die Rolle Chinas im internationalen Handel nach seinem Beitritt zur Welthandelsorganisation im Jahr 2001 stark gewachsen. Betrachtet man den gesamten Handel der RCEP-Mitglieder mit der EU zeigt sich, dass dieser stark zunahm: Der Anteil der Einfuhren an den extra-EU Importen stieg seit 2001 um 4,5 Prozentpunkte und der Anteil der Ausfuhren um 3,1 Prozentpunkte (siehe Abbildung 1, links). Dieser Anstieg mit den RCEP-Mitgliedern geht vor allem auf das Konto Chinas, jedoch auf Kosten einiger anderer Mitglieder wie Japan, dessen Ausfuhren in die EU (als Anteil am Gesamtvolumen) im entsprechenden Zeitraum von 2,8% auf 1,2% zurückgingen. Dasselbe gilt für Österreich, auch wenn der Anstieg des Handelsanteils in dieser Periode geringer ausfällt als für die EU insgesamt (siehe Abbildung 1, rechts).

… vor allem bei Hochtechnologieprodukten

Der Anteil der EU-Gesamtimporte aus den RCEP-Ländern ist jedoch bei Hochtechnologieerzeugnissen von etwa 15% im Jahr 2001 auf 24% im Jahr 2020 noch viel stärker gestiegen (siehe Abbildung 2). Für Österreich ist der Anstieg sogar noch höher — ein Sprung von 14 Prozentpunkten in diesem 20-Jahres-Zeitraum (Abbildung 2, rechts). Heute stammen fast 43% der gesamten EU-Importe von Computer-, Elektronik- und optischen Erzeugnissen, 26 % der Computer-, Elektronik- und optischen Erzeugnisse und etwa 20 % der Maschinen und Ausrüstungen aus dem RCEP-Block. Der Export dieser Güter mit den RCEP-Mitgliedern hat ebenfalls zugenommen, auch wenn er geringere Anteile an den Gesamtexporten der EU und Österreichs ausmacht (siehe Abbildung 3).

Dies macht diesen Sektor besonders abhängig und damit anfällig angesichts der weiteren Verlagerung nach Asien und der potenziellen Veränderungen der Handelsmuster infolge des RCEP-Abkommens. Dies hat auch größere wirtschaftliche Auswirkungen, da der Hochtechnologiesektor viel stärker auf F&E und Innovation angewiesen ist als die traditionelle verarbeitende Industrie. Als solche sind Hochtechnologie-Sektoren ein wichtiger Katalysator für Wachstum (Hornbeck und Moretti, 2018), insbesondere in Zeiten des digitalen und grünen Wandels. Eines der markantesten Beispiele ist dabei die Halbleiterproduktion im und -importen aus dem asiatischen Raum.

Jedoch Stagnation der Handelsbeziehungen im letzten Jahr

Für 2022 kann man (für die Monate Jänner bis September) eine Stagnation oder sogar einen geringen Rückgang des Anteils des EU-RCEP-Handels beobachten (siehe Abbildung 1 und 2). Die EU-Exporte in die RCEP-Länder gingen um etwa 1 Prozentpunkt zurück, während die österreichischen Hightech-Importe aus den RCEP-Ländern um etwa 3 Prozentpunkte sanken — der größte Rückgang im Hightech-Handel mit dem neuen Handelsblock in den letzten 20 Jahren. Es überrascht nicht, dass diese Verschiebung hauptsächlich von China allein verursacht wird (jährlicher Rückgang um 3,5 Prozentpunkte).

Es ist allerdings schwierig, die Ursachen für diesen Rückgang des EU-RCEP-Handels zu bestimmen, da viele Faktoren eine Rolle spielen. Nach der COVID-19-Pandemie und den geopolitischen und -ökonomischen Verwerfungen des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine zeichnen sich neue Trends im Handel ab mit dem Ziel die Lieferketten zu verkürzen (unter den Begriffen Nearshoring, Reshoring, oder Friendshoring). Auch die „Offene strategische Autonomie der EU bis 2040“ geht von einer stärkeren wirtschaftlichen Beziehung zwischen der EU und ihrer Nachbarschaft aus, sowie einer Neuausrichtung der Positionierung gegenüber China. So zielt, zum Beispiel, der im Dezember 2022 verabschiedete „European Chips Act“ darauf ab, die Widerstandsfähigkeit der Hightech-Lieferketten zu stärken — gerade bei den Halbleiterprodukten der EU, für die sich die Nachfrage laut Europäischer Kommission bis 2030 verdoppeln wird. All diese Trends dürften den Handel zwischen geografisch nahen Ländern auf Kosten der weiter entfernten Länder stärken. Im Einklang damit steht das Handelsabkommen RCEP, das verstärkt zur Bildung von Lieferketten innerhalb des asiatisch-pazifischen Raumes beitragen dürfte. Aus diese Gründen kann man davon ausgehen, dass sich die Dynamik des Handels mit den RCEP-Ländern in den nächsten zwanzig Jahren aufgrund von Umlenkungseffekten, die sich aus dem Abkommen ergeben (siehe z. B. Stehrer und Vujanovic, 2022), sowie der derzeit absehbaren generellen globalen Änderungen abschwächen wird.

Referenzen

Hornbeck, R., & Moretti, E. (2018). Who benefits from productivity growth? Direct and indirect effects of local TFP growth on wages, rents, and inequality (No. w24661). National Bureau of Economic Research.

Quah, D. (2011). The global economy’s shifting centre of gravity. Global Policy, 2(1), 3-9.

Stehrer, R., & Vujanovic, N. (2022). The Regional Comprehensive Economic Partnership (RCEP) agreement: Economic implications for the EU27 and Austria (No. 054). FIW.

UNCTAD (2021), A new centre of gravity: The Regional Comprehensive Economic Partnership and its trade effects.

Autorin: Nina Vujanović, PhD (wiiw)

Nina Vujanović ist Ökonomin am wiiw und forscht zu Themen des internationalen Handels, ausländischer Direktinvestitionen und den Balkanländern. Zuvor arbeitete sie als Beraterin des Vizegouverneurs der Zentralbank von Montenegro, als Beraterin bei der UNCTAD (Abteilung für Investitionen und Unternehmen) und als Forschungsstipendiatin bei der WTO (Abteilung für Wirtschaftsforschung und Statistik). Sie veröffentlichte Arbeiten in den Bereichen ausländische Direktinvestitionen, Produktivität, Innovation und Kreditrisiko. Sie hat einen PhD in internationaler Wirtschaft von der Staffordshire University und einen Master in Wirtschaftspolitik vom University College London.

Die Graphiken wurden von Alireza Sabouniha erstellt. Alireza Sabouniha ist Research Assistant am wiiw und absolviert derzeit sein Masterstudium in Volkswirtschaft an der WU Wien.

FIW-Spotlight: Der Außenhandel der EU mit Lateinamerika im Lichte der aktuellen handelspolitischen Schwerpunkte der EU-Kommission

In ihrer diesjährigen Rede zur Lage der Europäischen Union betonte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, dass es die außenpolitische Agenda der Europäischen Union zu überdenken gilt und die Zusammenarbeit mit demokratischen Nationen („unseren wichtigsten gleichgesinnten Partnern: unseren Freunden in den demokratischen Nation auf dieser Welt“) zu intensivieren sei (Von der Leyen, 2022). Lateinamerika spielt hierbei eine wichtige Rolle. So sollen in naher Zukunft die Abkommen mit Chile, Mexiko, neben dem mit Neuseeland ratifiziert und die Verhandlungen mit Australien und Indien vorangetrieben werden (ibid.). Konkret bedeutet dies eine Modernisierung des Handelsteils des EU – Chile Assoziierungsabkommens, eine Ratifizierung des EU –  Mexiko Assoziierungsabkommens, sowie des Freihandelsabkommens mit Neuseeland. Weiters soll in Lateinamerika, in Kooperation mit den G7, insbesondere den USA, eine umfangreiche Beteiligungsstrategie verfolgt werden (ibid.). Lateinamerika erfüllt damit zwei geopolitisch wichtige Kriterien für die Europäische Kommission: fast alle Staaten sind demokratisch regiert und es ist rohstoffreich, wie auch der Aktionsplan zur Widerstandsfähigkeit der EU bei kritischen Rohstoffen illustriert.

Dieser Beitrag legt den Fokus auf die wirtschaftliche Bedeutung des EU-Handels mit Lateinamerika. In Summe exportierte die EU im Jahr 2021 Güter im Wert von fast 2,2 Billionen Euro in Drittstaaten. Nach Lateinamerika wurden davon Güter im Wert von 114,9 Milliarden Euro exportiert. Dem gegenüber standen Importe aus Lateinamerika in der Höhe von 98 Milliarden Euro, was aus EU-Sicht einen Handelsbilanzüberschuss mit Lateinamerika in der Höhe von 16,9 Milliarden Euro ergibt. Wie Grafik 1 zeigt, war die EU-Handelsbilanz mit Lateinamerika in den Jahren seit der globalen Finanzkrise (ab 2012) immer positiv.

Gemessen an den EU-Exporten spielt Lateinamerika mit einem Anteil von 5,3% 2021 somit eine vergleichsweise geringe Rolle (Grafik 2). Die mit Abstand wichtigste Zielregion für EU-Exporte waren Europäische Drittstaaten, auf welche 34,5% entfielen, gefolgt von Kanada und USA mit 20%, China mit 10,3% und Afrika mit 6,7%. Weitere wichtige Exportpartner nach Größe sind Japan mit 2,9%, Südkorea mit 2,4% und Indien mit 1,9%.

Im Vergleich zum Jahr 2011 ist der Anteil der EU-Exporte nach Lateinamerika an den gesamten EU-Exporten von 5,7% auf 5,3% sogar leicht gesunken. Während das Handelsvolumen nach Lateinamerika seit 2011 mit etwa 23,9% gewachsen ist, stiegen die gesamten EU-Exporte um 34,3% (Grafik 3). Zum Vergleich, mit einem Plus von jeweils rund 77% im gleichen Zeitraum wuchsen die Exporte besonders stark nach China und Kanada und USA.

Innerlateinamerikanisch spiegelt die Priorisierung der Europäischen Kommission die Bedeutung von Chile und Mexiko für die europäischen Exportmärkte wider. So ist Mexiko für sich betrachtet der wichtigste Handelspartner der Europäischen Union in Lateinamerika, gefolgt von Brasilien (hier in Mercosur inkludiert) und Chile (Grafik 4).

Das EU-Mercosur Assoziierungsabkommen ist zwar ausverhandelt, liegt jedoch aktuell „auf Eis“. Aus EU-Sicht standen einer Ratifizierung des Assoziierungsabkommens bisher vor allem Vorbehalte beim Umweltschutz im Wege. In Brasilien, welches die Mercosur Gruppe dominiert, wurde unter der Regierung Bolsonaro der Umweltschutz auf vielerlei Ebenen geschwächt und die Abholzungen und die weitere Erschließung des Amazonasgebietes vorangetrieben. In konkreten Zahlen bedeutet dies, dass allein im Jahr 2021 mehr als 13.000 km² Regenwald (was mehr als der Fläche Tirols entspricht) abgeholzt wurden, im Jahr 2022 sogar noch mehr. Das Abkommen würde solchen Vorbehalten beim Umweltschutz zwar Rechnung tragen, aber wie Grübler at al. (2020) schlussfolgern, kann ein Handelsabkommen „kein besseres Instrument zur Durchsetzung von Umweltverpflichtungen sein als ein Umweltvertrag“. Wobei solche Klauseln für sich nicht neu sind. So haben die Umweltklausen in Freihandelsabkommen ganz allgemein seit den 1990ern deutlich zugenommen (Meinhart, 2022).

Mit dem designierten brasilianischen Präsidenten Luiz Inácio da Silva, könnte sich ein neues Zeitfenster zur Ratifizierung des Abkommens eröffnen. So hat er im Zuge seines Wahlkampfs als Ziel ausgegeben, binnen sechs Monaten nach seiner Wiederwahl, dieses abschließen, aber auch Teile des Abkommens nachverhandeln, zu wollen. Beim COP27 Gipfel wie auch schon davor betonte er, dass die Bekämpfung der Abholzungen im Amazons höchste Priorität haben werden. Seine Glaubwürdigkeit in dieser Hinsicht unterstreicht der deutliche Rückgang an Abholzungen unter seiner Präsidentschaft 2003 – 2010. Mit Blick auf die Wahlen zum Europäischen Parlament 2024, wo während des Wahlkampfs ein Abschluss eher unwahrscheinlich erscheint, öffnet sich somit 2023 ein Zeitfenster für beide Seiten. Die EU-Außenhandelspolitik ist hier sicher in einem Zielkonflikt aus geo-, und handelspolitischen Interessen und den selbst gesteckten Zielen des Green Deals. Lateinamerika ist hierfür exemplarisch, mit der großen wirtschaftlichen Bedeutung von Agrar- und Rohstoffexporten auf der einen und dem EU-Rohstoffbedarf auf der anderen Seite. So entfallen aktuell fast 41% der lateinamerikanischen Exporte auf Rohstoffe wie seltene Erden und auf landwirtschaftliche Güter und weitere 17,8% (als Teil der Sachgüterproduktion) auf die Erzeugung von Nahrungs- und Futtermitteln (Grafik 5). Europäische Exporte nach Lateinamerika sind hingegen zu mehr als 95% Sachgüter. Die wichtigsten Sektoren aus EU-Sicht sind hierbei der Maschinen- und Fahrzeugbau sowie chemische und pharmazeutische Erzeugnisse.

Lateinamerika ist somit für die Versorgung der Europäischen Union mit kritischen Rohstoffen von Relevanz. So rechnet die Europäische Kommission damit, dass sich der EU-Bedarf an seltenen Erden, derzeit von China dominiert, bis 2030 verfünffachen, bei Lithium sogar verachtzehnfachen wird. Laut dem 2020 veröffentlichten Aktionsplan zur Widerstandsfähigkeit der EU bei kritischen Rohstoffen bezieht die Europäische Union seltene Erden fast ausschließlich (98%) aus China (Europäische Kommission, 2020). Bei dem für die Batterieproduktion besonders bedeutenden Lithium ist hingegen Chile der weltweit größte Produzent und der wichtigste Lieferant für die Europäische Union (ibid.) Mexiko ist beispielsweise der größte nicht-asiatische Verarbeiter von Wismut und Brasilien, ebenso unter den wichtigsten Erzeugern mehrerer kritischen Rohstoffe. Im Rennen mit China spielt Lateinamerika dementsprechend bereits jetzt eine wichtige Rolle, dessen Bedeutung für die EU – vor allem auch im Zusammenhang mit den derzeitigen geopolitischen Änderungen – zunehmen wird.

Quellenverzeichnis:

Europäische Kommission. (2020). Mitteilung der Kommission an das europäische Parlament, den europäischen Rat, den Rat, den europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen Widerstandsfähigkeit der EU bei kritischen Rohstoffen: Einen Pfad hin zu größerer Sicherheit und Nachhaltigkeit abstecken. COM(2020) 474 final, Brüssel.

Grübler, J., Reiter, O. und Sinabell, F. (2020). EU und Mercosur – Auswirkungen eines Abbaus von Handelsschranken und Aspekte der Nachhaltigkeit. WIFO Monatsberichte 11/2020.

Meinhart, B. (2022). Greening Trade? Environmental Provisions in Trade Agreements. FIW- Policy Brief, (55).

Von der Leyen, U. (2022). Lage der Union. Rede. https://ec.europa.eu/commission/presscorner/api/files/document/print/de/speech_22_5493/SPEECH_22_5493_DE.pdf

Autor: Mag. Bernhard Moshammer, M.A. (wiiw)

Bernhard Moshammer ist Ökonom am Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche (wiiw). Sein Forschungsschwerpunkt ist Europäische Wirtschaftspolitik. Zuvor war er im österreichischen Bundeskanzleramt für EU-Angelegenheiten, uA. für den österreichischen EU-Ratsvorsitz tätig. Er hat ein Diplomstudium in Volkswirtschaftslehre an der Wirtschaftsuniversität Wien absolviert und einen M.A. in European Interdisciplinary Studies vom College of Europe, Natolin Campus in Warschau, Polen.

FIW-Spotlight: Consequences of the Euro depreciation

Since the start of 2022 the euro depreciated by some 15%, beginning the year at 1.14 USD per EUR and declining below parity towards 0.97 recently. One major factor causing this decline can be viewed as truly exogenous: the war in Ukraine was unexpected and resulted in several rounds of sanctions imposed on Russia, with sizeable negative repercussions on the EU’s export volumes and impairments for active foreign direct investment (FDI) of EU-firms in Russia. The EU received a second blow through rising energy prices. Many member countries showed a high dependence on Russian gas and oil, and the Russian government deliberately used its position to generate uncertainty in spot as well as futures gas markets leading to severe risk premiums after sanctions and countervailing measures by Russia were going back and forth. Due to its high dependence on Russian energy, the euro area suffered a set-back as a business location, making the euro area less attractive for passive FDI, destroying potential output, and finally leading to a depreciation of the euro vis-a-vis areas less exposed to Russia as a trade partner.

There is a second endogenous source for the devaluation of the euro, resulting from the build-up of inflationary pressure throughout the world economy, except Japan. The US-Federal Reserve Bank (Fed) was first confronted with rising inflation rates since in April 2021 (+4.2% YoY) while inflation in the euro area at that time still remained below target (+1.6% YoY). Both monetary authorities interpreted higher inflation rates as energy driven and transitory but by December 2021 the Fed changed its opinion and corrected its forward guidance from accommodative to restrictive. The Fed first announced to unwind its asset purchase program and started to increase the target rate by March 2022, while the ECB waited until the end of July 2022 to follow suit. By the end of September 2022 the target range for the US-interest rate reached 3% to 3.25% and the euro area‘s main refinancing rate was at 1.25%, creating an interest rate differential of almost 2 percentage points.

Deviations between US and European short term interest rates were a regular feature in the past. Figure 1 shows the interest rate differential between the US-target rate and the corresponding European equivalent from 1985 through 2022. A positive value on the horizontal axis implies that US-rates were above the main refinancing rate in the euro area. The vertical axis shows the exchange rate measured in USD per EUR. The slight negative slope of this cloud indicates that relatively high target rates in the US go along with a strong US-dollar, while a relatively high refinancing rate in the euro area typically involves a strong euro. The red dots in Figure 1 show the development from January to September 2022; the movement towards the lower right hand corner reflects the more aggressive policy stance in the USA together with the appreciation of the US-dollar.

Figure 1 – Relatively higher domestic interest rates support the home currency

Starting from this situation, what can we expect for the rest of 2022 and the following year? The WIFO forecast (Glocker – Ederer, 2022) expects a further tightening of monetary policy in both areas with the ECB acting more decisively such that the interest rate differential will be reduced to around 0.5 percentage points at the end of 2023. Accordingly, the euro will appreciate slightly (green dots in Figure 1), resulting in annual averages of 1.05 (2022) and 1.04 (2023) USD per euro with a trough in fall 2022. This development can be interpreted using the uncovered interest rate parity condition: after the US-monetary tightening, the USD must jump to a lower value (appreciation) in order to keep the interest parity condition valid, thus providing room for a consecutive depreciation which balances higher US-interest rates (Dornbusch, 1976). This adjustment mechanism does not hold empirically, however (Engel, 2014). A time-variable degree of asset market segmentation (Alvarez et al., 2009) or a liquidity premium on the deposit earning higher interest (Engel, 2016) provide alternative explanations.

Does the USD-EUR exchange rate actually jump around announcements dates of monetary policy actions? Figure 2 offers some insight. The lines in Figure 2 depict the exchange rate during the 10 business days before and after a monetary policy meeting, on which either the Fed (green) or the ECB (blue) announced a change in their target rate. To facilitate comparison, I norm the exchange rate for all episodes to unity at the day of the monetary policy announcement, thus a value of 1.02 indicates that the exchange rate was 2% above the level prevailing at the announcement date. The period runs from 16.3.2022, when the Fed published the first rate-hike through 21.9.2022, when the Fed increased the target range to 3% to 3.25%. Because both central banks explicitly use forward guidance, their moves appear to be somewhat expected. While the ECB does not seem able to move markets, the Fed announcements effectively make the dollar stronger, either at the date of the publication or even five to ten days ahead. Whether the ECB policy decision on 27.10.2022 includes some surprise element for the participants on the foreign exchange market, can be tracked in real time in Figure 2 over the next ten business days following the announcement date.

Finally, will there be consequences from the euro’s depreciation on the real economy? Probably price effects will dominate over the forecast horizon. A weaker euro implies higher import prices on intermediates, energy, consumer products, and tourism services in a period already plagued by inflationary strain. Such an environment makes it easier to pass-through higher import prices on to euro area customers. Positive wealth effects related to foreign USD-denominated portfolio investments by Europeans, however, will not compensate the price losses on international asset markets during 2022. Consequently, the potential positive effect on euro area consumption will remain limited. A cheaper euro will boost euro area exports, but at the same time weak foreign demand is likely to be the dominating force affecting international trade flows.

Author: Dr. Thomas Url

is Senior Economist at WIFO and has been working in the Research Group „Macroeconomics and European Economic Policy“ since 1994. From 1999 to 2002 he was editor-in-chief of WIFO-Monatsberichte (WIFO Monthly Reports). He is an expert in the Austrian Fiscal Council, lecturer at the University of Vienna and head of the Working Group on Economic Statistics and National Accounts of the Austrian Statistical Society. He works on issues of risk diversification, funded pensions, the European Monetary Union and econometric applications in the field of macroeconomics.

FIW-Spotlight: Außenhandelsprognose: Einbruch der Dynamik der Warenexporte im Winterhalbjahr 2022/23 zu erwarten

Die internationalen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen haben sich seit Jahresbeginn 2022 vor allem aufgrund der Folgewirkungen des Russland‑Ukraine‑Konflikts deutlich verschlechtert und den Ausblick für die Weltwirtschaft und den Welthandel erheblich eingetrübt. Der Energiepreisschock und der massive Preisauftrieb  sowie die Unsicherheit über die Verfügbarkeit von Gas führen vor allem zu Verwerfungen in der Sachgütererzeugung und verschärfen die angebotsseitigen Verknappungen durch Lieferengpässe und die Nachwirkungen der COVID-19-Pandemie. Das Konsumentenvertrauen und die Produktionserwartungen der Unternehmen sinken weltweit, am stärksten im Euro‑Raum.

Die heimische Sachgütererzeugung und insbesondere die Exportwirtschaft erwiesen sich im ersten Halbjahr 2022 angesichts der negativen Einflüsse massiver Teuerungen von Rohstoffen und Energie, der Arbeitskräfteknappheit, von Lieferengpässen und hoher Unsicherheit als sehr robust. Der österreichische Warenexport expandierte im ersten Halbjahr 2022 kräftig, mit einem äußerst dynamischen Wachstum im 1. Quartal 2022, das sich – trotz des Beginns der Russland‑Ukraine‑Krise im März 2022 – nur leicht abgeschwächt im 2. Quartal 2022 fortsetzte. Der Zuwachs der Exporte von Waren erreichte bis zum Juni 2022 19,2% zu laufenden Preisen (nominell) und 14,1% zu konstanten Preisen (real). Der wachsende Abstand der nominellen zur realen Entwicklung spiegelt die steigenden Exportpreise wider. Die österreichische Entwicklung der Warenexporte wurde von kaum einem anderen EU‑Land übertroffen. Deutschland, Frankreich und Italien verzeichneten einen deutlich geringeren Zuwachs, langsamer als in Österreich wuchsen aber auch die Warenexporte vieler kleinerer europäischer Vergleichsländer wie Schweden, Finnland oder Niederlande.

Industrielle Vorprodukte („bearbeitete Waren“) lieferten bisher einen der höchsten Wachstumsbeiträge zum Gesamtexport von Waren. Dies war eine Folge der noch stabilen Industrieproduktion durch eine erhöhte Produktion auf Lager bei den wichtigen Handelspartnerländern, um drohenden Ausfällen von Energielieferungen und weiteren Preissteigerungen zu entgehen. Der ebenfalls hohe Wachstumsbeitrag des österreichischen Maschinenexports ist insbesondere auf die starke Nachfrage aus den USA zurückzuführen. Auch der hohe Auftragsbestand der deutschen Investitionsgüterindustrie trug zum Wachstum der Maschinenexporte Österreichs bei. Der Beitrag von Energie- und Rohstoffexporten ist hauptsächlich preisgetrieben und weniger auf eine Ausweitung der Exportmengen zurückzuführen. Die sonst so wichtige österreichische Kfz- und Autozulieferindustrie trug kaum zum Exportwachstum bei. Dies steht in engem Zusammenhang mit der Krise in der deutschen Automobilindustrie.

Die Vorlaufindikatoren, die bis zum Ende des 2. Quartals 2022 auf hohem Niveau lagen, deuten mittlerweile auch in Österreich auf eine kräftige Abschwächung der Exportdynamik in der zweiten Jahreshälfte 2022 hin. Im WIFO‑Konjunkturtest beurteilen die Exporteure die Auftragsbestände aus dem Ausland zwar weiterhin überwiegend positiv, der Anteil positiver Meldungen hat sich aber seit Juni 2022 deutlich verringert. Die Exporterwartungen wurden erstmals seit der COVID‑19‑Krise deutlich zurückgeschraubt und die negativen Erwartungen für das Exportgeschäft überwiegen. Damit ist der Ausblick für neue Exportaufträge für den Rest des Jahres deutlich gedämpfter. Im 3. Quartal 2022 dürfte sich das Wachstum der Exporte noch aus den hohen Auftragsbeständen der Vormonate und abnehmenden Materialengpässen in der heimischen Produktion speisen. Im weiteren Verlauf sollten die negativen Folgewirkungen der Russland‑Ukraine‑Krise verstärkt auch auf die österreichischen Warenexporte durchschlagen. Dazu trägt die starke Verflechtung Österreichs mit den MOEL und mit Deutschland, die von der gegenwärtigen Krise besonders betroffen sind, ebenso bei, wie der zu erwartende Produktionsrückgang in der österreichischen Sachgütererzeugung aufgrund der hohen Energiepreise – insbesondere der Erdgaspreise. Verstärkt wird dieser Effekt durch den Verlust der internationalen Wettbewerbsfähigkeit insbesondere im außereuropäischen Export – gegenwärtig sieht sich die europäische und österreichische Industrie etwa siebenmal höheren Gaspreisen als etwa die USA  gegenüber und Wettbewerbsvorteile für Exporteure durch die Abwertung des Euro wiegen dies kaum auf. Allerdings dürfte der direkte negative Effekt der Energiepreise auf die Sachgütererzeugung in Österreich etwas schwächer ausfallen als in Deutschland, zumal die Erdgasintensität der österreichischen Industrie etwas geringer ist.

Die Prognose geht davon aus, dass es bis 2023 zu keinen behördlichen Geschäftsschließungen aufgrund der COVID-19-Pandemie in Österreich oder in wichtigen Handelspartnern kommt, die die Exportwirtschaft treffen würden. Weiters wird angenommen, dass der Russland-Ukraine‑Krieg anhält und die Sanktionen gegenüber Russland aufrecht bleiben. Von einem vollständigen Erdgaslieferstopp Russlands nach Europa wird nicht ausgegangen, aber die Unsicherheiten insbesondere bezüglich der Preisentwicklung bleiben annahmegemäß und damit bleibt das Niveau der Erdgaspreise hoch. In diesem Umfeld stehen einige der wichtigsten Handelspartner Österreichs vor einer kräftigen Konjunkturabschwächung, die in Deutschland, Italien und den MOEL zur Rezession im Jahr 2023 führen wird. Die Revisionen der internationalen Konjunkturaussichten seit Jahresbeginn sind enorm, sie prägen das Prognosebild aller wichtigen internationalen Organisationen (Europäische Kommission, OECD, IWF, Weltbank) und spiegeln die zunehmenden Verwerfungen des Russland‑Ukraine-Konflikts und die markant gestiegenen Weltmarktpreise von Energie und Rohstoffen wider. Als Resultat der Abkühlung der Weltkonjunktur 2023 sollte die Problematik von Engpässen in den Lieferketten abebben. Entspannung ist auch bei den Frachtraten im internationalen Transport sowie bei den Preisen für Rohöl und Industrierohstoffen zu erwarten.

Unter diesen veränderten Rahmenbedingungen wird die österreichische Exportdynamik vor allem zu Jahresende 2022 stark abnehmen, aber gestützt durch die außerordentlich gute Entwicklung im ersten Halbjahr 2022 zu einem Jahreszuwachs der Warenexporte von rund 8% führen und damit fast das Wachstum aus dem Vorjahr erreichen (2021: +9,3%). Die Importpreise steigen im Jahr 2022 mit 10,0% deutlich stärker als die österreichischen Exportpreise (+5,9%). Die hohen Weltmarktpreise für Rohstoffe, Energie und Vorleistungsgüter bewirken damit einen stark negativen Terms-of-Trade-Schock, der durch die Abwertung des Euro noch verstärkt wird. Dadurch wird die österreichische Handelsbilanz im heurigen Jahr mit einem negativen Preiseffekt von rund
8 Mrd. € belastet. Positive Mengeneffekte durch einen geringeren Anstieg der Importmenge als der Exportmenge dämpfen diesen negativen Effekt, sodass sich die Handelsbilanz 2022 insgesamt um 4,3 Mrd. € auf ein Defizit von rund
17 Mrd. € verschlechtern dürfte.

Im Jahr 2023 erreicht das österreichische Marktwachstum auf Basis der schwachen internationalen Importprognosen für die Handelspartner nur rund 0,4%. Vor allem die trüben Konjunkturaussichten für die wichtigsten österreichischen Exportmärkte im Euro‑Raum und die zunehmende Verschlechterung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit machen das Halten von Marktanteilen vor allem in energieintensiven und wichtigen Teilen der österreichischen Exportindustrie (Chemie, Stahl, Papier) immer schwieriger. Die Warenexporte im Jahr 2023 stagnieren, ebenso wie die Importe.
Die Terms-of-Trade, also das Verhältnis der Export- zu den Importpreisen, werden sich 2023 weiter verschlechtern, in deutlich geringerem Maße als im heurigen Jahr, dennoch bleiben die negativen Preiseffekte der Hauptgrund für die weitere Erhöhung des Handelsbilanzdefizits im Jahr 2023 um 2,6 Mrd. € auf 19,7 Mrd. €.


Autorin:  Dr. Yvonne Wolfmayr

ist Senior Economist im Forschungsbereich „Industrieökonomie, Innovation und internationaler Wettbewerb“ und seit 1992 am Österreichischen Institut für Wirtschaftsforschung (WIFO) tätig. Von 2013 bis 2016 war sie Stellvertretende Leiterin des WIFO. Das Studium der Volkswirtschaftslehre absolvierte sie an der Universität Wien und promovierte and der Universität Innsbruck. Auslandsaufenthalte an renommierten Universitäten in den USA (University of California, Los Angeles, und Stanford University) begleiteten ihre Laufbahn seither. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der empirischen Analyse internationaler Handelsfragen, einschließlich ausländischer Direktinvestitionen. Die Erstellung der Außenhandelsprognose zählt zu ihren regelmäßigen Aktivitäten am WIFO.


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FIW-Spotlight: Preiseffekte dominieren Mengeneffekte beim Handel der EU27 mit Russland und Ukraine

Die Auswirkungen des ungerechtfertigten Angriffskrieges Russlands gegen die Ukraine und die daraus resultierenden ökonomischen Verwerfungen sind für alle spürbar: Steigende Rohstoffpreise und lange Lieferzeiten bei manchen Gütern konnten zwar schon vorher beobachtet werden, aber der Krieg hat diese Entwicklungen sicherlich weiter befeuert und verschärft.

Während der Handel mit Rohstoffen wie Gas aufmerksam beobachtet wird, gibt es auch spürbare Auswirkungen im Güterhandel. In diesem Beitrag werfen wir einen Blick auf aktuelle Handelsdaten, und nehmen die Entwicklung im Handel der EU27 mit Russland und der Ukraine unter die Lupe. Wir verwenden dazu Daten der EU Comext Datenbank, welche auf detaillierter Produktebene und mit einer Verzögerung von zwei Monaten abrufbar ist. Da die Handelsströme weiters in Wertvolumen und Mengenvolumen berichtet werden, erlauben sie Mengen- und Preiseffekte zu unterscheiden und ermöglichen somit einen genaueren Blick auf die Trends vor und während des Kriegs zu werfen.

Im Jahr 2021 wurden Güter mit einem Handelsvolumen von 185,6 Milliarden Euro aus Russland importiert. Die Importvolumen aus der Ukraine betrugen rund 40,3 Milliarden Euro. Dieser Niveauunterschied ist nicht überraschend, da Russland auch die dreifache Einwohnerzahl aufweist. Auch die Exporte nach Russland waren 2021 um diesen Faktor größer.

Aufgrund der starken Preisentwicklungen ist es aber unabdingbar auch die Mengenentwicklungen (Daten sind verfügbar in Kilogramm) zu betrachten. Abbildung 1 zeigt die Indizes des Handelsvolumens (Werte), der Mengen und der Preise der Ex- und Importströme von Gütern der EU27 mit Russland und der Ukraine, wobei Jänner 2021 die Basis bildet. Diese Darstellung lässt die Trends dieser drei Indikatoren besser erkennen, blendet die absoluten Größen aber aus.

Die Graphik zeigt, dass sich die Exportvolumen nach Russland bis Februar 2022 stabil gehalten haben (im Vergleich zu März 2021) und für die Ukraine bis Dezember 2021 sogar gestiegen sind, danach aber auf etwa die Hälfte gefallen sind. Die Exportvolumen in die Ukraine konnten sich im April und Mai dieses Jahres schon fast wieder auf Vorkriegsniveau erholen. Auch bei den Exportvolumen nach Russland scheint im Mai ein Aufwärtstrend erkennbar. Die Aufteilung nach Mengen- und Preiseffekten zeigt aber, dass der Aufwärtstrend vorrangig durch eine Preissteigerung getrieben wird: die Exportmengen stiegen von 511 Mio kg im April um nur 7 % auf 546 Mio kg im Mai, während sich die durchschnittlichen Exportpreise um 26 % erhöhten. Die Steigerungen der Exportmengen sind vor allem in der Produktgruppe 84 (Kernreaktoren, Kessel, Maschinen, Apparate und mechanische Geräte; sowie Teile davon) zu finden: spezialisierte Maschinen von Hebe- und Beladegeräten über Mäh- und Dreschgeräten bis hin zu Verbrennungsöfen (Produkte, welche scheinbar nicht sanktioniert sind) wurden im Mai verstärkt nach Russland exportiert.

Wenig überraschend lässt sich erkennen, dass die Handelsvolumen der Importe aus Russland ab März 2022 und der Ukraine ab Februar 2022 einen Rückgang erfahren haben (und im Mai 2022 bereits wieder gestiegen sind). Durch die Aufsplittung des Importvolumens in Mengen und Preise zeigt sich, dass die Menge an Importen der EU aus der Ukraine stärker zurück ging als aus Russland, wo die Importmengen nur wenig sanken. Weiters ist erkennbar, dass vor allem der Preis von Importen aus Russland seit Jänner 2021 gestiegen ist und erst im Mai 2022 einen Rückgang verzeichnet hat. Und der Preisanstieg ist sogar für die gestiegenen Importvolumen verantwortlich: Die Importmenge war bis Jänner 2022 um etwa 8 % geringer (im Vergleich zu Jänner 2021) und ging danach noch weiter zurück (-25 % in Mai 2022).

Abbildung 2 zeigt die EU27-Handelsströme mit der Ukraine aufgeschlüsselt nach Produktgruppen. Die drei am meisten gehandelten Produktgruppen waren 2021 Güter des Industriebedarfs, Investitions- und Konsumgüter. Der Krieg scheint dabei schon Veränderungen gebracht zu haben: Seit April werden vermehrt Kraft- und Schmierstoffe und Fahrzeuge in die Ukraine exportiert. Es zeigt sich, dass sowohl die Mengen als auch die Volumen der Exporte in die Ukraine in fast allen Produktgruppen nach Februar 2022 stark fielen, sich aber wieder rasch erholten. Insbesondere ist – im Vergleich zu den Vorperioden – ein Anstieg in der Kategorie „Güter anderweitig nicht angegeben“ (orange Linie) zu bemerken, da darunter unter anderem Waffen und Munition fallen. Deren Exporte sind von 0,5 Mio. Euro im Jänner auf 133 Mio. Euro im Mai angestiegen.

Die Importe aus der Ukraine bestehen vor allem aus Gütern des Industriebedarfs (61 % des Importvolumen) und Nahrungsmittel (21 % des Importvolumens). Nach dem Einbruch im Februar ist für alle Produktgruppen eine leichte Erholung im Mai 2022 feststellbar. Es gibt Anzeichen dafür, dass die Erholungsphase weiter anhält: Russland und die Ukraine haben durch die Vermittlung der Türkei ein Abkommen unterzeichnet, welches die sichere Ausfuhr von Getreide feststellen soll. Einige mit Getreide und anderen Nahrungsmittel beladene Schiffe haben seither den Hafen von Odessa verlassen.

Das Volumen der Exporte nach Russland ging ab März stark zurück, scheint aber ab Mai einen kleinen Aufschwung zu zeigen, was auf die Preissteigerungen zurückgeführt werden kann. Die Exporte an Fahrzeugen (in Mio. Euro) sind von Jänner bis Mai um 85 % gefallen, wobei jedoch ein leichter Anstieg im letzten Monat zu erkennen ist.

Bei den Importen aus Russland macht die Kategorie „Kraftstoffe und Schmierstoffe“ 69 % des Gesamtwertes aus. Güter des Industriebedarfs machten weitere 27 % aller Importe aus, die restlichen Kategorien fallen mit 1 % oder weniger kaum ins Gewicht.

Ab März fallen die Importmengen in den meisten Produktkategorien. Dabei hat sich das Wertvolumen für die Produktkategorie Kraftstoffe und Schmierstoffe seit Jänner 2021 mehr als verdoppelt, während das Mengenvolumen annähernd gleichgeblieben ist, was somit auf starke Preisanstiege zurückzuführen ist.

Allgemein sind diese starken Preisanstiege – und nicht nur bei Importen von Rohstoffen wie Gas oder Öl – der wichtige Faktor, warum es Russland gelungen ist, in den ersten sechs Monaten von 2022 einen Handelsüberschuss von 138,5 Mrd Dollar zu erzielen. Insgesamt zeigt sich, dass aufgrund des Angriffskrieges Russlands gegen die Ukraine der Handel starken Änderungen unterworfen war. Dabei ist jedoch aufgrund der starken Preisdynamik insbesondere wichtig, die Entwicklungen in Mengeneinheiten zu betrachten, um ein realistisches Bild der Entwicklungen zu zeigen.

Autor: Mag. Dipl. Ing. Oliver Reiter (wiiw)

Oliver Reiter ist Ökonom und Data Scientist am Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche (wiiw). Seine Forschungsschwerpunkte sind internationaler Handel, nicht-tarifäre Maßnahmen im Handel, die Erstellung/Aktualisierung einer multiregionalen Input-Output-Datenbank (wie WIOD) und agentenbasierte makroökonomische Modelle. Er hat einen Bachelor- und einen Master-Abschluss in Volkswirtschaft, einen Bachelor-Abschluss in Statistik und einen Master-Abschluss in Informatik, alle von der Universität Wien.

Die Graphiken wurden von Karl Gmeiner erstellt. Karl Gmeiner ist Schüler am Europagymnasium Baumgartenberg und absolvierte im Sommer 2022 ein Volontariat am wiiw.

FIW-Spotlight: Importabhängigkeiten der EU bei Vorleistungsprodukten

Die Lieferkettenprobleme im Zuge der COVID-19 Pandemie als auch des ungerechtfertigten Angriffskrieges Russlands gegen die Ukraine und die damit einhergehenden ökonomischen – aber auch sozialen und humanitären – Auswirkungen und Sanktionsmaßnahmen haben die Abhängigkeiten hinsichtlich der Importe von Vorleistungsprodukten vor allem aus dem Nicht-EU Ausland schmerzhaft deutlich gemacht. Die zukünftige geo-politische und -ökonomische Entwicklung ist jedenfalls unsicherer denn je, worauf es Antworten zu finden gilt. Das wirft zunächst die Frage auf, wie groß der Anteil der Vorprodukte ist, die aus Nicht-EU27 Ländern importiert werden. Dies wird in diesem Beitrag zunächst mit Daten aus dem Jahr 2018 gezeigt, wobei natürlich derzeitige Veränderungen – insbesondere hinsichtlich der Rolle Russlands – nicht berücksichtigt werden konnten. Wie Abbildung 1 zeigt, reicht der Anteil der aus Nicht-EU27 Ländern importierten Vorleistungsprodukten von 33% in Irland bis zu 7% in Rumänien. Für Österreich beträgt dieser Anteil etwa 10%.

Der Anteil der importierten Vorleistungen aus Russland liegt bei den meisten Ländern unter 4% (des gesamten Vorleistungsverbrauchs) und ist nur für Litauen und Bulgarien mit etwa 10% wesentlich höher. Österreich hat aus dieser makroökonomischen Sicht mit etwa 0,5% eine eher geringe Abhängigkeit von Russland zu verzeichnen. Der Anteil Chinas bei den Vorleistungsprodukten liegt für die meisten Länder ebenfalls in etwa dieser Größenordnung. Estland, Ungarn, oder Tschechien liegen hier mit Werten bis etwa 2,5% an der Spitze. Für Österreich liegt der Wert der importierten Güter aus China bei etwa 1%. Betrachtet man die EU27 als ein Land stammen gemäß dieser Daten fast 12% der verwendeten Vorleistungen aus dem Ausland, davon 1% aus Russland und 1,2% aus China.

Betrachtet man nur die Importe von Vorleistungsgütern aus Nicht-EU27 Ländern (Abbildung 2) zeigt sich, dass etwas mehr als 40% aus den USA, dem Vereinigten Königreich, Schweiz, Japan und Norwegen stammen. China mit 11% und Russland mit 9% weisen ebenfalls größere Anteile auf. Diese sieben Länder machen somit etwa 60% der importierten Vorleistung Europas aus. Indien, Türkei, Singapur und Korea haben Anteile von etwa 2%. 24 der 64 in den Daten enthaltenen Länder haben weniger als 1% Importanteil.

Allerdings kann schon das Fehlen einzelner Produkte Produktionsprozesse lahmlegen oder zumindest verzögern. Bekannte und derzeit akute Beispiele dafür sind die Importabhängigkeit vom russischen Gas, besonderen Rohstoffen wie Palladium oder Nickel oder auch komplexeren Produkten wie Kabelbäumen, die aufgrund des Angriffskrieges Russlands in der Ukraine nicht mehr produziert werden können.

Legt man den Fokus auf den Güterhandel zeigt eine Auswertung detaillierter Handelsdaten (UN COMTRADE HS96, Durchschnitt der Jahre 2018-2020), dass bei fast 140 Produkten (von mehr als 5.000) der Importanteil aus einem Land bei mehr als 90% liegt. Setzt man die Grenze mit 75%, sind es bereits fast 600 Produkte, die einen hohen Konzentrationsanteil aufweisen. Abbildung 3 zeigt die Abhängigkeiten von einzelnen Partnerländern nach Produkten für die wichtigsten Importpartner. Beispielsweise hat China bei 34 Produkten einen Importanteil von mehr als 90% und bei 205 Produkten von mehr als 75%.

Die rezente Diskussion über Risiken, Resilienz und Robustheit von Wertschöpfungsketten zeigt einerseits die vielfältigen Formen von potenziellen Schocks auf, wobei angebotsseitige Versorgungsengpässe, nachfrageseitige Einbrüche oder plötzliche Anstiege sowie Unterbrechungen der Transportwege als wichtigste genannt werden. Gegeben diese unterschiedlichen potenziellen Ursachen für Störungen in den Wertschöpfungsketten gestalten sich auch die wirtschaftspolitischen und firmenspezifischen Maßnahmen unterschiedlich je nach Produkt, Herkunftsland oder -region und Wichtigkeit betreffend Produktionsprozesse und gesamtwirtschaftliche Notwendigkeiten. Diese reichen von Diversifikationsstrategien hinsichtlich Anbieter und Transportwege, Aufbau oder Erhaltung redundanter Produktionskapazitäten, Bevorratung und Maßnahmen zur Verbesserung der Information bezüglich Struktur und Transparenz von Lieferketten (z.B. Stress-Tests von Lieferketten). Empirische Analysen und wirtschaftspolitische Schlussfolgerungen sind aufgrund der unsicheren und risikoreichen zukünftigen Entwicklungen notwendiger denn je.

Autor: Univ.-Doz. Dr. Robert Stehrer (wiiw)

Robert Stehrer ist wissenschaftlicher Leiter am Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche (wiiw). Seine Expertise deckt ein breites Feld der Wirtschaftsforschung ab, das von Fragen der internationalen Integration, des Handels und der technologischen Entwicklung bis hin zu Arbeitsmärkten und angewandter Ökonometrie reicht. Seine jüngsten Arbeiten konzentrieren sich auf die Analyse und die Auswirkungen der Internationalisierung der Produktion und des Wertschöpfungshandels. Weitere Beiträge beziehen sich auf den Zusammenhang von Digitalisierung, Demographie, Produktivität und Arbeitsmärkte. Er studierte Volkswirtschaft an der Johannes Kepler Universität und Soziologie am Institut für Höhere Studien (IHS) und ist Lektor für Wirtschaftswissenschaften an der Wirtschaftsuniversität Wien (WU Wien) und der Technischen Universität Wien (TU Wien).